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Hans-Jürgen Papier
Thomas de Maizière
Werner Schulz
S.E. Erzbischof Dr. Heiner Koch
Henrik Kaufholz
Thomas Bellut
Hans-Ulrich Jörges
Maurice Gourdault-Montagne

Prof. em. Dr. Dres. h. c. Hans-Jürgen Papier

Former President of the German Federal Constitutional Court.

This speech is only available in German.

Es gilt das gesprochene Wort.

Leipzig, 13.10.2011.
“Die Freiheit steht an der Wiege aller großen Gedanken: Sie ist es, die unseren Geist verfeinert und erhellt hat – gleich einem Einfluss des Himmels; sie ist es, die unsere Vorstellungskraft befreit, vermehrt und über sich selbst hinausgehoben hat. (…) Gebt mir die Freiheit zu wissen, mich mitzuteilen und – vor allem – frei nach dem Gewissen zu urteilen.”
Diese Worte übersetzen eine Stelle aus der englischsprachigen Schrift “Areopagitica”, die der Dichter und Publizist John Milton im Jahr 1644 verfasst hat. Miltons Abhandlung ist wohl das erste Plädoyer für eine freie und unzensierte Presse in der Menschheitsgeschichte. Zugleich ist es eines der ersten Dokumente, das den untrennbaren Zusammenhang von Gedanken-, Meinungs- und Pressefreiheit erkennt. Mit diesem, die Freiheitsbereiche im Zusammenhang sehenden Ansatz führt Miltons lesenswerte Schrift direkt in unser heutiges Verfassungsverständnis von der Bedeutung einer freien Presse hinein. Als nämlich rund 300 Jahre später das Grundgesetz im Jahr 1949 in Kraft trat, stellte es in Art. 5 Abs. 1 GG die Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit unter Schutz und garantierte gleichzeitig das Recht, sich aus allgemein zugänglichen Quellen zu informieren. Diese – auch nach 60 Jahren im Wortlaut unveränderte – Garantie ist auch als Reaktion auf die verheerenden Erfahrungen des Nationalsozialismus zu verstehen, unter dem die Presse zum Werkzeug der NSDAP und des Staatsapparates gemacht und die freie Meinungsäußerung mit einem nie da gewesenen Terrorregime im Ansatz erstickt worden waren.

Nach dem Verständnis des Grundgesetzes ist eine freie, nicht von der öffentlichen Gewalt gelenkte, keiner Zensur unterworfene Presse ein Wesenselement des freiheitlichen Staates; sie ist für die moderne Demokratie unentbehrlich. Soll nämlich der Bürger politische Entscheidungen treffen, so muss er sich umfassend informieren und auch die Meinungen vergleichen können, die andere sich gebildet haben. Zugleich steht die Presse in der repräsentativen Demokratie als ständiges Verbindungs- und Kontrollorgan zwischen dem Volk und seinen gewählten Vertretern in Parlament und Regierung. Sie trägt politische Forderungen und Kritik an die politisch handelnden Staatsorgane heran, die auf diese Weise ihre Entscheidungen auch in Einzelfragen der Tagespolitik ständig am Maßstab der in der Gesellschaft tatsächlich vertretenen Auffassungen messen können. Dabei kann diese wichtige Aufgabe der Presse für die Öffentlichkeit nur von Presseunternehmen geleistet werden, die sich im gesellschaftlichen Raum frei bilden können und miteinander in geistiger und wirtschaftlicher Konkurrenz stehen.

Dem Institut einer freien Presse kommt in der Demokratie also eine überaus große, ja eine letztlich konstituierende Bedeutung zu. Ähnliches lässt sich für die verfassungsrechtliche Bedeutung des Rundfunks und allgemein des Rechts der öffentlichen Meinungsäußerung anführen.

Meinungsäußerungen genießen den Schutz des Grundrechts des Art. 5 Abs. 1 GG, ohne dass es darauf ankommt, ob die Äußerung begründet oder grundlos, emotional oder rational ist, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt wird. Die Bürger sind von Rechts wegen nicht verpflichtet, die dem Grundgesetz zu Grunde liegenden Wertungen persönlich zu teilen. Die Verfassung basiert zwar auf der Annahme und der Erwartung, die Bürger würden die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und für sie eintreten, verlangt dagegen von Rechts wegen keine Werteloyalität. Die Verfassung vertraut, so heißt es in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts immer wieder, auf die Kraft der freien Auseinandersetzung als effektivste Waffe gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien. Selbst den Gefahren, die aus der Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts drohen, entgegenzutreten, weist das Grundgesetz in erster Linie dem bürgerlichen Engagement im freien politischen Diskurs, aber auch der staatlichen Aufklärung und Erziehung in den Schulen zu.

Aber natürlich bestehen auch die so hochrangigen Freiheiten der Meinungsäußerung, der Presse und des Rundfunks nicht schrankenlos, und diese Freiheiten bedeuten auch nicht, dass die staatliche Rechtsordnung sich jeder Regelung dieser Bereiche enthalten müsste; vielmehr findet die Meinungsfreiheit wie auch speziell die Pressefreiheit ihre Schranken in den allgemeinen Gesetzen (Art. 5 Abs. 2 GG). Deshalb ist der Gesetzgeber berechtigt und angesichts seiner Verantwortung für das Gesamtwohl letztlich auch verpflichtet, rechtliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine geordnete und daher gemeinverträgliche Wahrnehmung der Medienfreiheiten ermöglichen.

Unter allgemeinen Gesetzen sind solche Gesetze zu verstehen, die nicht eine Meinung als solche verbieten, die sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten, sondern dem Schutz eines schlechthin ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts dienen. Es geht also um die Wahrung von Rechtsgütern, die in der Rechtsordnung allgemein und damit unabhängig davon geschützt sind, ob sie durch Meinungsäußerungen oder auf andere Weise verletzt werden können.

In einer jüngeren Entscheidung vom 4. November 2009 hat das Bundesverfassungsgericht diese Kriterien nochmals konkretisiert: Die Allgemeinheit eines Gesetzes setze voraus, dass die Vorschrift in rechtsstaatlicher Distanz gegenüber konkreten Auseinandersetzungen im politischen oder sonstigen Meinungskampf strikte “Blindheit” oder Neutralität gegenüber denen gewährleistet, auf die sie letztlich angewendet werden soll. Entsprechend dem Verbot der Benachteiligung oder Bevorzugung wegen politischer Anschauungen nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG setzt daher auch der Art. 5 Abs. 2 GG für Beschränkungen der Meinungsfreiheit ein spezifisches und striktes Diskriminierungsverbot gegenüber bestimmten Meinungen voraus. Oder anders ausgedrückt: Gesetzliche Verbote oder Beschränkungen, die den Inhalt von Meinungsäußerungen betreffen und die durch solche Meinungsäußerungen verursachte Verletzungen von Rechtsgütern unterbinden oder sanktionieren sollen, sind nur unter strenger Neutralität des Staates und Gleichbehandlung im politischen oder sonstigen Meinungskampf zulässig.

Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings in einem speziellen Fall eine Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts für meinungsbezogene gesetzliche Verbote anerkannt: Bestimmungen, die wie die neu gefasste Vorschrift über die Strafbarkeit der Volksverhetzung im § 130 Abs. 4 StGB, die propagandistische Gutheißung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft unter Strafe stellen, sind zwar keine allgemeinen Gesetze im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG. Das Recht der freien Meinungsäußerung unterliegt aber insoweit einer immanenten Schranke: Die Befürwortung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft ist in Deutschland ein Angriff auf die Identität des Gemeinwesens nach Innen mit friedensbedrohendem Potenzial. Der geschichtlich begründeten Sonderkonstellation durch besondere Vorschriften Rechnung zu tragen, will Art. 5 Abs. 1 und Abs. 2 des Grundgesetzes nicht ausschließen. Das menschenverachtende Regime der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft habe für die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland eine gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung. Das bewusste Absetzen von der Unrechtsherrschaft des Nationalsozialismus war historisch zentrales Anliegen aller an der Entstehung sowie Inkraftsetzung des Grundgesetzes beteiligten Kräfte. Das Bundesverfassungsgericht betont in diesem Zusammenhang allerdings die besondere Enge dieses Ausnahmetatbestandes. Das Grundgesetz rechtfertige kein allgemeines Verbot der Verbreitung rechtsradikalen oder auch nationalsozialistischen Gedankenguts schon in Bezug auf die rein geistige Wirkung seines Inhalts.

Es ist ausgeschlossen, in der Kürze der Zeit die rechtlichen Strukturen und die Einzelheiten des komplizierten Geflechts von Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit sowie der sie einschränkenden Rechtspositionen auch nur annähernd vollständig wiederzugeben. Ich werde deshalb ohne Anspruch auf Vollständigkeit anhand einiger Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts exemplarisch versuchen, einen Einblick in die heute aktuellen Probleme und Argumentationsstandards aus verfassungsrechtlicher Sicht zu geben. Dabei konzentriere ich mich auf den Bereich der Meinungs- und Pressefreiheit und lasse die spezifischen Fragen der Rundfunkfreiheit aus Zeitgründen bewusst außen vor. Ich beginne mit dem Verhältnis der Pressefreiheit zu staatlichen Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen und gehe anschließend über zum komplizierten Spannungsverhältnis zwischen Meinungs- und Pressefreiheit einerseits und den Grundrechten der von der Berichterstattung Betroffenen, insbesondere deren allgemeinem Persönlichkeitsrecht, andererseits.

I. Grenzen staatlicher Eingriffe in die Pressefreiheit

Im CICERO-Urteil vom 27. Februar 2007 entschied das Bundesverfassungsgericht über Verfassungsbeschwerden, die sich gegen die Anordnung einer Durchsuchung von Redaktionsräumen des Politikmagazins “CICERO” und die Beschlagnahme der dort aufgefundenen Beweismittel richteten. Die Durchsuchung und Beschlagnahme standen in Zusammenhang mit staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen unter anderem gegen den Beschwerdeführer – den Chefredakteur des Magazins “CICERO” – wegen Beihilfe zur Verletzung des Dienstgeheimnisses. Anlass der Ermittlungen war ein in dem Magazin erschienener Artikel über einen Terroristen, in dem in zum Teil sehr detaillierter Weise auf einen als Verschlusssache gekennzeichneten Auswer-tungsbericht des Bundeskriminalamts Bezug genommen und aus diesem Bericht ausführlich zitiert wurde.

Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts stellten die Durchsuchung und die Beschlagnahme einen verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigten Eingriff in die Pressefreiheit dar. Denn der gegen den Beschwerdeführer gerichtete Tatverdacht der Beihilfe zum Geheimnisverrat stützte sich einzig auf den im “CICERO” erschienenen Artikel sowie auf Hinweise, dass der Verfasser des Artikels – ein freier Journalist – im Besitz des erwähnten Berichts des Bundeskriminalamts gewesen sein musste. Demgegenüber lagen keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Absicht eines Geheimnisträgers des Bundeskriminalamts vor, der auf die Veröffentlichung der von ihm offenbarten Dienstgeheimnisse hinzielte. Will jedoch ein Geheimnisträger nur Hintergrundinformationen liefern, ist die Straftat des Geheimnisverrats bereits mit der Offenbarung des Geheimnisses beendet. Durch die nachfolgende Veröffentlichung des Dienstgeheimnisses kann dann keine Beihilfe mehr geleistet werden.

Damit ist es zwar verfassungsrechtlich noch nicht zu beanstanden, wenn die Staatsanwaltschaft gegen einen Journalisten in einer Situation wie der damaligen ein Ermittlungsverfahren einleitet. Würde aber jedweder Verdacht zugleich für die Anordnung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen ausreichen, hätte es die Staatsanwaltschaft in der Hand, durch die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens den besonderen grundrechtlichen Schutz der Medienangehörigen selbst dann zum Wegfall zu bringen, wenn die Anhaltspunkte für eine Beihilfe schwach sind. Dies würde zu dem Risiko führen, dass die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen einen Journalisten mit dem ausschließlichen oder überwiegenden Ziel einleitete, auf diese Weise den Informanten festzustellen. Dies aber widerspräche dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Informantenschutz.

Der Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG gebietet, diesem Risiko entgegenzuwirken. Die strafprozessualen Normen über Durchsuchung und Beschlagnahme müssen deshalb dahingehend ausgelegt werden, dass die bloße Veröffentlichung eines Dienstgeheimnisses durch einen Journalisten nicht ausreicht, um einen insoweit genügenden Verdacht der Beihilfe zum Geheimnisverrat zu begründen. Zu fordern sind vielmehr spezifische tatsächliche Anhaltspunkte für eine vom Geheimnisträger bezweckte Veröffentlichung des Geheimnisses. Liegen diese nicht vor, sind Durchsuchungen und Beschlagnahmen bei einem Journalisten jedenfalls verfassungswidrig.

Der CICERO-Entscheidung lassen sich damit für die Grenzen hoheitlicher Maßnahmen gegenüber der Presse vor allem zwei – eng miteinander zusammenhängende – Aussagen entnehmen:

Die erste Aussage lautet: Die bloße Veröffentlichung eines Dienstgeheimnisses durch einen Journalisten reicht im Hinblick auf das in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes gewährleistete Grundrecht der Pressefreiheit nicht aus, um einen zur Durchsuchung und Beschlagnahme genügenden Verdacht der Beihilfe des Journalisten zum Geheimnisverrat zu begründen.

Dem liegt eine weitere, schon im SPIEGEL-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. August 1966 enthaltene wichtige Aussage zugrunde: Durchsuchungen und Beschlagnahmen in einem Ermittlungsverfahren gegen Presseangehörige sind verfas-sungsrechtlich unzulässig, wenn sie ausschließlich oder vorwiegend dem Zweck dienen, die Person eines Informanten zu ermitteln.

Ich verlasse damit den Bereich presserechtlicher Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffsmaßnahmen.

II. Das Verhältnis der Pressefreiheit zu anderen
Rechtsgütern

1. Allgemeines:
Dass die Ausübung der Meinungs- oder der Pressefreiheit mit den Grundrechten anderer Personen, insbesondere mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht derjenigen, über die berichtet wird, kollidieren kann, liegt auf der Hand. Die Landespressegesetze schreiben zwar einige formale Rechte und Pflichten fest: So muss ein verantwortlicher Redakteur benannt werden und es werden Gegendarstellungsansprüche normiert, andererseits hat die Presse einen Auskunftsanspruch gegenüber Behörden und die Presse wird strafrechtlich privilegiert, indem zum Teil besondere Voraussetzungen für die Beschlagnahme von Presseerzeugnissen und eine verkürzte Verjährung von Pressedelikten gelten. Es liegt aber auf der Hand, dass sich so nicht alle Konflikte befriedigend lösen lassen. Und so kommt es denn auch häufig zu zivilrechtlichen Unterlassungs- und Schadenersatz-streitigkeiten zwischen den Presseunternehmen und den von einer Berichterstattung Betroffenen. Es bedarf inhaltlicher Kriterien, wie weit die Presse Rechtspositionen Dritter, insbesondere die Persönlichkeitsrechte derjenigen, über die sie berichtet, beachten muss. Weil aber das einschlägige Zivilrecht die Voraussetzungen der Unterlassungs-, Widerrufs- und Schadensersatzan-sprüche nur recht allgemein formuliert, ist die Rechtsprechung zur Konkretisierung im Einzelfall aufgerufen, indem sie die einfachgesetzlichen (zivilrechtlichen) Abwehransprüche “im Lichte” der widerstreitenden Grundrechte sowohl der Presse als auch der Betroffenen auslegt. Dieser Ansatz ist zunächst in der berühmten Lüth-Entscheidung entwickelt und danach in Jahrzehnten verfeinert worden.

2. Lüth-Rechtsprechung
Das Lüth-Urteil vom 15. Januar 1958 befasste sich mit der Bedeutung der Meinungsfreiheit zwischen Privatpersonen; ihm lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der damalige Vorsitzende des Hamburger Presseklubs, Erich Lüth, rief im Jahr 1950 in einer Rede und in einem offenen Brief dazu auf, den Film “Die unsterbliche Geliebte” des Regisseurs Veit Harlan zu boykottieren. Veit Harlan hatte zur Zeit des Nationalsozialismus u. a. den antisemitischen Hetzfilm “Jud Süß” gedreht. Lüth wollte verhindern, dass – vor allem im Ausland – der Eindruck entstehe, ein neuer Aufstieg des deutschen Films sei mit der Person Harlans verbunden. Daraufhin verklagten die Hersteller- und die Verlei-firma des Films “Die unsterbliche Geliebte” Lüth auf Unterlassung der Boykottaufrufe. Das Landgericht Hamburg gab der Klage mit der Begründung statt, der Boykottaufruf stelle eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung im Sinn von § 826 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) dar. Hiergegen erhob Lüth Verfassungsbeschwerde, weil er sein Grundrecht auf freie Meinungsäußerung verletzt sah.

Das Bundesverfassungsgericht gab dem Beschwerdeführer Lüth Recht und stellte in seiner wegweisenden Entscheidung zunächst fest, dass die Grundrechte, also sowohl die Meinungsfreiheit als auch der Persönlichkeitsschutz Betroffener, nicht nur Abwehr-rechte gegen den Staat begründen, sondern als Ausdruck einer “objektiven Werteordnung” auch ganz maßgeblichen Einfluss darauf haben, wie die zwischen Privatpersonen geltenden Vorschriften auszulegen sind. Zwar führt das dazu, dass neben Strafnormen wie dem Tatbestand der Beleidigung (§ 185 StGB) auch zivilrechtliche Normen – also gerade auch solche über Unterlassungs- und Schadenersatzansprüche – als “allgemeine Gesetze” im Sinne von Art. 5 Abs. 2 GG die Meinungsfreiheit grundsätzlich zugunsten anderer Rechtsgüter einschränken können. Ganz maßgeblich für die weitere Entwicklung gerade auch im Bereich des Pressewesens war aber, dass nach Auffassung des Gerichts die bloße Existenz eines solchen “allgemeinen Gesetzes” die Beschränkung der Meinungsfreiheit allein noch nicht rechtfertigt. Vielmehr müssen die einfachgesetzlichen Einschränkungen ihrerseits an der Bedeutung der Meinungs- und Pressefreiheit gemessen und gegebenenfalls entsprechend ausgelegt und einschränkend angewandt werden. Dabei geht es – und das ist entscheidend – nicht nur um eine allgemein gehaltene Betrachtung der gesetzlichen Vorschriften. Vielmehr müssen anhand des konkret umstrittenen Sachverhalts alle Besonderheiten des jeweiligen Falles berücksichtigt werden. Aus diesem Grund lässt sich die Lösung gerade der umstrittenen Fälle regelmäßig nicht aus dem Gesetzeswortlaut selbst ablesen, sondern führt erst die gerichtliche Ermittlung und Bewertung der Einzelfall-Umstände unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Werteordnung zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis.

So hielt das Bundesverfassungsgericht es beispielsweise im Falle Lüths für wesentlich, dass keine wirtschaftlichen – etwa aus einer Konkurrenz entspringenden – sondern politische und kulturpolitische Motive verfolgt wurden. Auch die tatsächlichen Auswirkungen des Aufrufs auf die künstlerische und menschliche Existenz Harlans, die (wegen der Lüth als Privatmann nicht zu Gebote stehenden Zwangsmittel und wegen der Möglichkeit Harlans, im Filmwesen ggf. noch andere künstlerische Betätigungsmöglichkeiten als die Spielfilmregie zu finden) jedenfalls nicht Harlans Menschenwürde verletzten, wurden berücksichtigt; ebenso der Umstand, dass den betroffenen Firmen und Harlan selbst die Möglichkeit offenstand, öffentlich ihre eigene Auffassung der Position Lüths gegenüberzustellen. Vor allem aber galt es, die Grundentscheidung der Verfassung für die freie Bildung der öffentlichen Meinung herauszustellen, zugunsten derer private Interessen jedenfalls dann zurückstehen müssen, wenn die Diskussion – wie im Fall Lüth – Gegenstände “von allgemeiner Bedeutung und ernstem Gehalt” betreffe. Aus all diesen Gründen hob das Bundesverfassungsgericht 1958 die gegen Lüth gerichteten Unterlassungsurteile auf.

3. Caroline von Hannover
Ich mache einen Sprung von 50 Jahren zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2008. In dieser Entscheidung ging es um die Zulässigkeit von vier unterschiedlichen Bildberichterstattungen in Zeitschriften über die Prinzessin Caroline von Hannover.

Das einschlägige Kunsturhebergesetz sieht hierzu zwar eine Regelung vor, bleibt aber recht allgemein: Danach dürfen Bildnisse im Ausgangspunkt nur mit Einwilligung des Abgebildeten verbreitet werden. Eine Ausnahme vom Einwilligungserfordernis gibt es allerdings u. a. dann, wenn es sich um Bildnisse aus dem Bereich der “Zeitgeschichte” handelt. Diese Ausnahme wiederum gilt nicht für eine Verbreitung, durch die “berechtigte Interessen des Abgebildeten” verletzt werden. Die Konkretisierung der Begriffe “Zeitgeschichte” und “berechtigte Interessen” ist seit je Sache der Rechtsprechung, die diese Begriffe im Zuge der Lüth-Judikatur des Bundesverfassungsgerichts “im Lichte der Verfassung” auszulegen hat, also unter Berücksichtigung sowohl der konstituierenden Bedeutung der Meinungs- und Pressefreiheit als auch gegenläufiger Grundrechte der Abgebildeten. Die deutschen Zivilgerichte hatten – mit Billigung des Bundesverfassungsgerichts – in diesem Zusammenhang ursprünglich die Figur der “Person der Zeitgeschichte” entwickelt, wobei “relative Personen der Zeitgeschichte”, die durch ein bestimmtes zeitgeschichtliches Ereignis das Interesse auf sich ziehen, ohne Einwilligung nur im Zusammenhang mit diesem Ereignis abgebildet werden durften, während diese Beschränkung nicht für “absolute Personen der Zeitgeschichte” gelten sollte, die aufgrund ihres Status und ihrer Bedeutung allgemein öffentliche Aufmerksamkeit finden und selbst Gegenstand der Zeitge-schichte sind. Ihnen wurde nur die Möglichkeit zugestanden, sich an erkennbar abgeschiedenen Orten – nicht nur im häuslichen Bereich – unbehelligt von Bildberichterstattungen zu bewegen.

Gegen diese typisierte Beschränkung des Schutzes der Privatsphäre bei den “absoluten Personen der Zeitgeschichte” hatte sich im Jahr 2004 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gewandt. Zwar muss auch nach der europäischen “Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)” das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens abgewogen werden gegen die Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit . Dabei müsse der Blick aber stärker als nach der deutschen Rechtsprechungstradition auf die von der betroffenen Person wahrgenommene Aufgabe und auf den Inhalt der Presseberichterstattung gerichtet werden. Es sei zu unterscheiden zwischen einer Berichterstattung zu “Fragen allgemeinen Interesses”, also über Tatsachen, die zur demokratischen Diskussion beitragen und Personen des politischen Lebens betreffen, einerseits und einer (unzulässigen) Berichterstattung über Einzelheiten des Privatlebens einer Person, die keine solchen Aufgaben hat, so dass es nur um die Befriedigung der Neugier des Publikums gehe, andererseits.

Zwar hat die Europäische Menschenrechtskonvention in Deutschland nur den Rang eines Gesetzes, also keinen Verfassungsrang und steht vor allem nicht über der Verfassung: Das Bundesverfassungsgericht hat die deutschen Gerichte aber verpflichtet, die deutschen Gesetze sowohl verfassungskonform als auch nach Möglichkeit völkerrechtsfreundlich auszulegen und die konventionsrechtlichen Wertungen auch bei der Auslegung der Grundrechte der deutschen Verfassung zu berücksichtigen.

Aus diesem Grund haben die zuständigen Zivilgerichte die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs zum Anlass genommen, ihre jahrelange Rechtsprechung nicht unerheblich zu korrigieren. Es wird zwischenzeitlich maßgeblich auf den “Informationswert der Abbildung” und damit auf den “Bezug zu einer Sachdebatte von allgemeinem Interesse” geachtet. Das Bundesverfassungsgericht hat dies in seinem Beschluss vom 26. Februar 2008 auch verfassungsrechtlich im Wesentlichen gebilligt und so einen weitgehenden Gleichklang zwischen Konventions- und Verfassungsrecht hergestellt. Dabei hat es allerdings sorgsam darauf geachtet, die Bedeutung der Meinungs- und Pressefreiheit gebührend zu berücksichtigen. Es hat deshalb klargestellt, dass der Schutzbereich der Pressefreiheit “auch unterhaltende Beiträge über das Privat- oder Alltagsleben von Prominenten und ihres sozialen Umfelds, insbesondere der ihnen nahestehenden Personen, umfasst. Es würde die Pressefreiheit über Gebühr einengen, bliebe die Lebensführung dieses Personenkreises außerhalb ausgeübter Funktionen einer Berichterstattung grundsätzlich entzogen. Allerdings wird dem Anliegen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dadurch Rechnung getragen, dass in jedem Einzelfall eine Abwägung vorzunehmen ist und bei der Gewichtung des Informationsinteresses im Verhältnis zum kolli-dierenden Persönlichkeitsschutz dem Gegenstand der Bildberichterstattung maßgebliche Bedeutung zukommt, also insbesondere der Frage, ob es ausschließlich um Befriedigung der Neugier in Privatangelegenheiten geht. Dabei ist auch der Kontext der Wortberichterstattung zu berücksichtigen. Auch ist es der Presse, die ohne Einwilligung berichtet, verfassungsrechtlich gesehen grundsätzlich zumutbar, dass in einem Prozess nicht der klagende Betroffene, sondern sie selbst gegenüber dem Gericht die Umstände darlegen und ggf. beweisen muss, unter denen das Bild entstanden ist.

Konkret behandelte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vier Bildveröffentlichungen über Caroline von Hannover, die selbst kein öffentliches Amt bekleidet. Die Veröffentlichung von zwei Bildern war auch unter Berücksichtigung der besonderen Bedeutung der Pressefreiheit ohne Einwilligung nicht zulässig. Ein Foto zeigte Caroline von Hannover zusammen mit ihrem Ehemann in St. Moritz unter vielen Menschen auf einer öffentlichen Straße im Zusammenhang mit einem Artikel über den Winterurlaub des Ehepaares ebendort. Das Bundesverfassungsgericht beanstandete nicht die zivilgerichtliche Wertung, dass es sich um keinen Beitrag zu einer Diskussion von allgemeinem Interesse und um keine Information über ein zeitgeschichtliches Ereignis handele, sondern um eine Bildberichterstattung über den Urlaub, der auch bei “Prominenten” zum grundsätzlich geschützten Kernbereich der Privatsphäre gehört.

Ein anderes Foto zeigte die Eheleute im Sessellift während eines Skiurlaubs im Rahmen eines Berichts über den alljährlich in Monaco stattfindenden “Rosen-Ball”. Auch hier beanstandete das Bundesverfassungsgericht nicht die zivilgerichtliche Einschätzung, dass ein solcher Ball zwar ein “zeitgeschichtliches Ereignis” sein kann, dass die den Urlaub, also den Privatbereich, betreffende Bebilderung mit der den Ball betreffenden Wortberichterstattung aber gerade nichts zu tun habe und deshalb ohne Einwilligung unzulässig sei.

Demgegenüber sollte in zwei anderen Fällen das Informationsinteresse überwiegen. Ein Foto zeigte Caroline von Hannover und ihren Ehemann im Skiurlaub auf einer Straße in St. Moritz im Rahmen eines Berichts über die Erkrankung ihres Vaters, des damals regierenden Fürsten von Monaco, und über seine Krankenpflege durch seine Kinder. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte die zivilgerichtliche Beurteilung, dass die Wortberichterstattung über den damals regierenden Fürsten einschließlich seiner Krankenpflege durch seine Kinder ein zeitgeschichtliches Ereignis war, über das berichtet werden darf. Im Ergebnis “strahlte” die Zulässigkeit der Wortberichterstattung über das zeitgeschichtliche Ereignis damit quasi auf die Bildberichterstattung über die Urlaubssituation “aus”, zumal keine erschwerenden Umstände, wie z. B. eine Ausnutzung von Heimlichkeit oder der Einsatz entsprechender technischer Mittel bei der Erstellung der Aufnahmen, ersichtlich waren.

Ein anderes Foto zeigte Caroline von Hannover im Urlaub neben ihrem Ehemann auf einer öffentlichen Straße mit anderen Menschen im Rahmen einer Wortberichterstattung über die entgeltliche Vermietung einer den Eheleuten gemeinsam gehörenden Ferienvilla. Die Zivilgerichte hatten hier sowohl die Bild- als auch die Wortberichterstattung pauschal auf den Kernbereich der Privatsphäre bezogen und deshalb für unzulässig gehalten. Demgegenüber hielt es das Bundesverfassungsgericht für vorstellbar, dass die Wortberichterstattung über die Vermietung einer Villa als veränderte ökonomische Verhaltensweise Prominenter mit “Leitbild- oder Kontrastfunktionen für große Teile der Bevölkerung” einen “Anlass für sozialkritische Überlegungen der Leser” und damit für eine Sachdebatte darstellt. Weil das wiederum Auswirkungen auch auf die Bildberichterstattung haben könnte, wurde die Sache insoweit an die Zivilgerichte zur erneuten Prüfung zurückverwiesen.

III. Schluss

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Meine Ausführungen konnten aus Zeitgründen nur einen kleinen Teil der verfassungsrechtlichen Probleme im Zusammenhang mit der Meinungs- und Pressefreiheit behandeln. Ich hoffe aber zwei Dinge deutlich gemacht zu haben: Erstens, dass das Bundesverfassungsgericht die Erhaltung der Meinungs- und Pressefreiheit gegenüber staatlichen Eingriffen sehr ernst nimmt; und zweitens, dass in dem komplizierten Spannungsverhältnis zwischen Meinungsfreiheit und kollidierenden Grundrechten betroffener Privater das Bemühen um einen fairen Ausgleich aller betroffenen Grundrechte im Vordergrund steht, der auch der Unentbehrlichkeit der Meinungs- und Pressefreiheit für die Demokratie Rechnung trägt. Dieser Ansatz ist zwar kompliziert, aber angesichts der überragenden Bedeutung der Grundrechte jeder Mühe wert.

Es ist übrigens für den Zustand der Meinungs- und Pressefreiheit in diesem Land ein gutes Zeichen, dass in der forensischen Praxis Beschränkungen der Medienfreiheiten weniger durch den Staat selbst, sondern solche zum Schutz gegenläufiger Grundrechte Privater im Vordergrund stehen.

Die Verfassung gewährleistet die Meinungsfreiheit als Geistesfreiheit unabhängig von der inhaltlichen Bewertung ihrer Richtigkeit, rechtlichen Durchsetzbarkeit oder Gefährlichkeit. Die Grundrechte erlauben nicht den staatlichen Zugriff auf die Gesinnung, sondern ermächtigen erst dann zum staatlichen Eingriff, wenn Meinungsäußerungen die rein geistige Sphäre des “Für-richtig-haltens” verlassen und in Rechtsgutsverletzungen oder erkennbar in Gefährdungslagen umschlagen. “Die Gefährlichkeit von Meinungen als solche ist kein Grund, sie zu verbieten” (Masing, Süddeutsche Zeitung vom 1. März 2011, S. 6). Dies gilt erst recht für die – aus der Sicht der Mehrheit – abstoßenden, wertlosen, “minderwertigen” oder Geschichte verfälschenden Meinungen. Das gehört zum Fundament des freiheitlichen Rechtsstaats. Wer diesen Satz nicht gelten lassen will, vergreift sich am Fundament des Rechtsstaats.

Prof. Dr. Thomas de Maizière

as German Federal Ministerof the Interior.

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Es gilt das gesprochene Wort.

Leipzig, 8.10.2010.
Wir haben eben schon kurz von Aram Radomski und Siegbert Schefke gehört und den Bildern, die wir ihnen zu verdanken haben. Am 9. Oktober 1989, also vor fast genau 21 Jahren, stiegen die beiden heimlich auf den Turm der Reformierten Kirche am Tröndlin-Ring hier in Leipzig. Direkt unter ihren Füßen zogen rund 70.000 Montagsdemonstranten vorbei und forderten friedlich Reformen in der DDR. Mit einer Kamera filmten sie den Demonstrationszug.

Noch am gleichen Abend – im heutigen Zeitalter schnellstmöglicher Kommunikation kann man sich kaum noch vorstellen, was das für eine logistische Meisterleitung war, noch dazu musste der Film über die Mauer nach West-Berlin geschmuggelt werden – zeigten die Tagesthemen das “Wunder von Leipzig”. Über das West-Fernsehen kamen die Bilder zurück in die DDR.

Die eindrücklichen Bilder verfehlten ihre Wirkung nicht. Der trotz der Bedrohung durch die bewaffneten Sicherheitskräfte des SED-Regimes friedliche Ausgang der Demonstration und die auf dem Film gut zu sehenden Menschenmassen ermutigten viele Menschen in der DDR, an den kommenden Demonstrationen teilzunehmen.

Braucht es eindringlichere Beispiele, um Macht und Wirkung von Bildern und freien, unzensierten Nachrichten zu belegen?

Im Rahmen des Jubiläums der Feier von 20 Jahren Friedlicher Revolution und Deutscher Einheit, gab es viele solcher Geschichten zu erzählen. Eine andere gute Geschichte ist, dass gerade in Leipzig, wo bis 1989 noch der journalistische Nachwuchs in der DDR “in einer Art rotes Kloster” “auf Linie” gebracht wurde, nun schon zum zehnten Mal der “Preis für die Freiheit und Zukunft der Medien” am richtigen Ort vergeben wird. Genauso wie mit der heutigen Journalistenausbildung wird mit dem Preis die Forderung der Demonstranten des Herbstes ’89 nach Meinungs- und Pressefreiheit mit Leben erfüllt. Es ist gut, dass in Leipzig nun neue Journalistengenerationen ausgebildet werden und zwar nicht darin, wie man die Losung des Tages aus Ost-Berlin am besten verpackt, sondern wie man den eigenen Kopf dazu einsetzt, die Möglichkeiten der Pressefreiheit zu nutzen, aber auch dafür Sorge zu tragen, diese nicht zu missbrauchen. Es zeigt sich, dass Leipzig das Erbe der Friedlichen Revolution auch auf diese Weise bewahrt und pflegt.

Die Forderung nach Pressefreiheit und noch so wichtige Preise allein reichen nicht

Der Preis, der heute Abend vergeben wird, würdigt Menschen, die für Meinungs- und Pressefreiheit weltweit eintreten, vor allem dort, wo es – aus welchen Gründen auch immer – nicht möglich ist, frei und ungehindert und ohne Gefahr für sich selbst zu recherchieren und zu berichten.

Die Forderung nach Pressefreiheit und noch so wichtige Preise allein reichen nicht. Medien- und Pressefreiheit muss gestaltet werden, einen Rahmen erhalten. Sie muss gelebt werden. Das ist eine Frage des Rechts, aber nicht nur. Es ist vor allem eine Frage gelebter Verantwortung. Diese Verantwortung obliegt der ganzen Gesellschaft, den Mediennutzern, den Medien, den Journalisten und den Politikern.

Eine Demokratie funktioniert dadurch, dass sich das Volk in Freiheit eine eigenständige Meinung bilden kann. Eine freie und eigenverantwortliche Meinung zu entwickeln, dazu braucht es eine freie Presse und freie Medien. Dabei ist in die Verantwortung der Presse gestellt, umfassende Informationen zu ermöglichen, die Vielfalt der bestehenden Meinungen wiederzugeben sowie selbst Meinungen zu vertreten. Pressefreiheit und Meinungsfreiheit sind zwei Seiten ein und derselben Medaille; sie haben nicht ohne Grund ihren Standort in demselben Grundrechtsartikel: Die eine Freiheit ist ohne die andere nicht denkbar.

Pressefreiheit ist das tägliche Brot für die Demokratie

Das Bundesverfassungsgericht hat die besondere Bedeutung der Pressefreiheit für unsere Demokratie festgestellt: “Eine freie, nicht von der öffentlichen Gewalt gelenkte, keiner Zensur unterworfene Presse ist ein Wesenselement des freiheitlichen Staates; insbesondere ist eine freie, regelmäßig erscheinende politische Presse für die moderne Demokratie unentbehrlich.” Ein bekannter deutscher Journalist hat das in einfachen Worten auf den Punkt gebracht: “Pressefreiheit ist das tägliche Brot für die Demokratie”.

Die Presse bedient das Informationsinteresse der Bevölkerung. Dazu gehört einerseits, Sachverhalte, die sich in einer zunehmend globalisierten Welt ereignen, möglichst verständlich zu erklären. Wie viele Bürger können diese komplexen Zusammenhänge ohne zusammenfassende Darstellung in den Medien verstehen? Hier kann die Presse helfen, als Multiplikator Verständnis über die staatlichen Zusammenhänge zu erreichen. Anderseits gehört dazu aber auch, unangenehmen Wahrheiten auf die Spur zu kommen und Missstände ans Tageslicht zu befördern. Diese Aufgaben der Medien sind gleichermaßen wichtig, auch wenn sie uns zuweilen ärgern.

Die Ausübung der Pressefreiheit braucht Verantwortung wie der Gebrauch von jeder Art Arbeit

Schwierig wird die Situation dann, wenn erkennbar wird, dass eine Story nur aufgrund eines Geheimnisverrats einem Journalisten bekannt und von diesem veröffentlicht wurde. In einem solchen Fall stehen sich der Wert – die Sicherheit des Staates, zu dem auch der Geheimschutz gehört – und der Schutz der Pressefreiheit gegenüber.

Pressefreiheit funktioniert nur, wenn ein Informant auch geschützt wird. Das ist unentbehrlich. Die Medien können nicht auf private Mitteilungen verzichten. Aber deswegen muss man diejenigen, die Geheimnisverrat begehen, nicht auch noch loben. Das gilt jedenfalls in Demokratien. Geheimnisverrat ist und bleibt strafbar.

Die Ausübung der Pressefreiheit braucht Verantwortung wie der Gebrauch von jeder Art Arbeit. Diese Verantwortung erwächst auch aus der Macht der Medien. Ich bin als Innenminister für die öffentliche Sicherheit im Land zuständig. Journalisten sollten sich ihrer Verantwortung bei allen Meldungen, die mit öffentlicher Sicherheit zu tun haben, bewusst sein. In bestimmten Fällen, zum Beispiel einer Entführung, ist es aus ermittlungstaktischen Gründen unverantwortlich, darüber öffentlich zu berichten. Nun erfahren aber Medien aus verschiedenen Quellen oder im Hintergrund von einem solchen Fall, bekommen Informationen über den Stand polizeilicher Ermittlungen und wittern vielleicht eine gute Story. Eine Veröffentlichung der Informationen könnte aber Leib und Leben des Opfers gefährden.

An dieser Stelle kommen Vertrauen und Verantwortung zusammen. Als Ermittler oder Innenminister muss man das Vertrauen in die Medien haben, dass diese der Bitte folgen, nichts Unverantwortliches zu dem Fall zu veröffentlichen und die Medien haben die Verantwortung, die Folgen ihres Handelns genau zu bedenken. Andererseits haben die Ermittler die Verantwortung, nach Abschluss des Falls die Medien und die Öffentlichkeit über die wesentlichen Aspekte zu informieren und die Medien müssen das Vertrauen haben, dass sie die notwendigen Informationen auch erhalten und gesammelte Fakten veröffentlichen können. Im Großen und Ganzen funktioniert das Wechselspiel von Vertrauen und Verantwortung in Deutschland recht gut und ich will und muss darauf vertrauen, dass das auch in Zukunft so bleiben wird.

Verantwortung muss sich auch im Umgang mit der Einflussmacht zeigen, die den Medien zugeschrieben wird. Das zeigt der manchmal für die Presse verwendete Begriff der “vierten Gewalt”. Als Bundesinnenminister, der für die Verfassung zuständig ist, und als Jurist kann mich der Begriff nicht komplett überzeugen, da er staatsorganisatorisch nicht ganz zutreffend ist. Aber ich denke, er veranschaulicht gut, dass die Presse die öffentliche Meinung prägt und damit die Staatsgewalt auch faktisch jedenfalls in der Wirkung durch Berichterstattung kontrolliert. Ein Verfassungsorgan wird die Presse damit nicht.

Man mag Religion kritisieren können und dürfen, aber Häme gefällt mir persönlich nicht

Zweifellos haben Medien eine große Aufklärungs- und Aufdeckungskompetenz. Es ist ihre Aufgabe, Themen zu recherchieren, darüber zu berichten, Skandale aufzudecken und Missstände zu benennen. Es ist nach meiner Meinung Aufgabe der Presse, über Themen zu berichten und nicht Themen zu erfinden oder zu machen, oder auch Themen erst hochzuziehen und sich anschließend darüber zu beschweren. Wohlgemerkt: das alles ist erlaubt und nicht verboten. Ich persönlich finde es nur nicht richtig und nehme mir die Freiheit, das zu sagen.

Verantwortung der Medien hat auch etwas zu tun mit Taktgefühl. Takt oder Anstand kann man rechtlich nicht erzwingen, aber diese Tugenden sollte jeder Verantwortliche in den Medien verinnerlichen und sich den Folgen seines Handelns, Schreibens oder Zeichnens immer bewusst sein.

Als engagierter Christ bin ich persönlich der Auffassung, dass Religion etwas Heiliges ist. Man muss ihr behutsam begegnen und die Achtung, die Gläubige ihrer Religion entgegenbringen, berücksichtigen. Man mag Religion kritisieren können und dürfen, aber Häme gefällt mir persönlich nicht.

Vor einiger Zeit hat z. B. ein Mode-Designer ein zentrales Motiv des christlichen Glaubens, die Darstellung des Letzten Abendmahls Jesu Christi mit seinen Jüngern, für Werbezwecke, ich möchte es milde ausdrücken, verfremdet. Auf dem arrangierten Foto wurden die Jünger dabei durch barbusige Models ersetzt. Als Christ empfinde ich dies als geschmacklos, aber auch ein Werbeplakat genießt den Schutz der Meinungsfreiheit. Als Bürger muss ich das ertragen. Tolerieren heißt ja auch wörtlich übersetzt: dulden oder ertragen. Das ist Teil der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unseres Landes. Loben muss ich es nicht.

Ob wir Bilder oder Karikaturen als ansprechend oder geschmacklos, als pointiert und witzig oder als wenig aussagekräftig empfinden, liegt in der Wahrnehmung eines jeden einzelnen. Und auch wenn eine Karikatur meinen Geschmack nicht trifft, so bin ich doch dafür, dass jeder hierzulande oder sonst wo in der Welt das zu Papier bringen kann, was durch das Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt ist.

Und wenn dann der Karikaturist wie der heutige Preisträger nach der Veröffentlichung mit dem Leben bedroht wird, überfallen wird und in übler Weise beschimpft wird, dann verdient er den Respekt und die uneingeschränkte Unterstützung von uns allen, von allen Demokraten in der Welt.

Du bist anderer Meinung als ich und ich werde dein Recht dazu bis in den Tod verteidigen

Voltaire hat gesagt: “Du bist anderer Meinung als ich und ich werde dein Recht dazu bis in den Tod verteidigen”. Drückt dieser Satz nicht das Größte aus, was in einer offenen demokratischen Gesellschaft in Bezug auf Meinungsfreiheit und Toleranz gesagt werden kann? Wir hatten nur nicht geglaubt, dass dieser Satz im 21. Jahrhundert noch aktuell sein könnte.

Das eben genannte ist eine Herausforderung an uns alle. Aber sie ist nicht die einzige Herausforderung, wenn wir auf die Zukunft der Medien blicken.

Wir alle haben das Gefühl, unser Alltag ist schneller, hektischer, gehetzter geworden. Davon bleiben auch die Medien nicht verschont. Moderne Telekommunikationstechnik, allen voran das Internet, hat eine ungeahnte Beschleunigung in der Übermittlung von Nachrichten bewirkt. Im Gegensatz zu einer Zeitungs- oder Fernsehredaktion, wo es einen Redaktionsschluss gibt, nachdem man mal ein bisschen durchschnaufen kann, ist das Internet rund um die Uhr offen.

Wenn ein Journalist um 16 Uhr Redaktionsschluss hat, seine Story aber noch nicht 100-prozentig “wasserdicht” ist, wird er sie eher auf den nächsten Tag verschieben. Und vielleicht ist das auch gar nicht so schlecht, weil er dann dazu kommt, den ein oder anderen Aspekt noch einmal zu überdenken.

Das Internet versetzt die Medien in einen “always-on”-Modus

Das Internet versetzt die Medien dagegen in einen “always-on”-Modus, jederzeit und überall verfügbar und immer mit dem Anspruch, stets das Neueste und Aktuellste vorzuhalten. Dabei ist zu befürchten, dass mit dem Gebot der Schnelligkeit die Qualität der Berichterstattung und damit die Glaubwürdigkeit verloren gehen. Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen renommierten Nachrichtenportalen und Twitter. Aber ich sehe mit Sorge den Erfolg virtueller Mund-zu-Mund-Propaganda und ihren Erfolg im Netz. Es ist offensichtlich, dass skurrile Selbstdarsteller, wilde Gerüchte und kühne Thesen schneller als zuvor oft mehr Verbreitung finden als professionell recherchierte Meldungen. Hier droht Gefahr für die Pressefreiheit, die wir nicht leichtfertig abtun dürfen.

Der Mut und das Engagement einzelner, die im Dienst der Meinungsfreiheit mit ihrer Kritik an bestimmten Zuständen Diskussionen anstoßen und dabei mit negativen Konsequenzen für die eigene Situation rechnen müssen, haben meine höchste Wertschätzung.

Gestern jährte sich zum vierten Mal der Todestag von Anna Politkowskaja, einer früheren Preisträgerin. Ihre Ermordung mahnt uns: Pressefreiheit ist keine Selbstverständlichkeit und ist noch an zu vielen Orten in der Welt gefährdet, auch an Orten, an denen wir nicht mehr damit rechnen konnten oder durften. So könnte man sich wünschen, dass wir eines Tages diesen Preis nicht mehr vergeben müssen, weil sich das Grundrecht auf Meinungs- und Pressefreiheit überall durchgesetzt hat. Aber das ist leider noch Zukunftsmusik.

Aber wenn dieser Leipziger “Preis für die Freiheit und Zukunft der Medien” seine Preisträger weiter dazu antreibt, ihren Weg zu gehen und andere ermutigt, ihnen zu folgen, dann bewahren wir im besten Sinne das Erbe der Friedlichen Revolution.

Werner Schulz

former Member of the European Parliament

This speech is only available in German.

Es gilt das gesprochene Wort

Leipzig, 6. Oktober 2017

“Es gibt keine schlimmere Armut als die Unwissenheit” lautet ein türkisches Sprichwort.

Dem zu begegnen werden mit der Verleihung des Preises für die Freiheit und Zukunft der Medien an Deniz Yücel und Asli Erdogan in diesem Jahr nach 2009, 2015 und 2016 erneut zwei Journalisten ausgezeichnet, die unerschrocken und fundiert über die politischen Verhältnisse in der Türkei berichtet haben.

Darüber wie Schlag auf Schlag die demokratischen Grundrechte abgebaut werden und allmählich eine Diktatur entsteht.

Beiden drohen hohe Haftstrafen wegen angeblicher Terrorpropaganda und Volksverhetzung. Allein schon diese absurde Anschuldigung spricht Bände und wirft ein bezeichnendes Licht auf die Willkür und die Verfolgungshysterie in der Türkei. Mit drastischen Maßnahmen versucht die türkische Polizei und Justiz kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. 170 Medienhäuser wurden seit vorigem Jahr geschlossen. Mehr als 160 Journalisten sind derzeit in Haft. Kritischer, investigativer Journalismus wird als Verbrechen behandelt.

Auf der von Reportern ohne Grenzen veröffentlichten Rangliste für die Pressefreiheit ist die Türkei auf Platz 155 von 180 Ländern abgestürzt. Dort steht sie mittlerweile hinter Kongo gefolgt von Brunei und Kasachstan.

Der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel hat zwar früher bei der taz mit heftig umstrittenen Satirebeiträgen gelegentlich die Grenze zu Zynismus und persönlicher Schmähung überschritten, doch als Türkei-Korrespondent der WELT ist er wahrlich nicht als Böhmermann aufgetreten.

Den Zorn des allmächtigen Präsident Erdogan hat er sich zugezogen, weil er über die korrupten Machenschaften seines Schwiegersohns und Energieministers Albayrak berichtet und darüber hinaus behauptet habe, für den Umsturzversuch im Sommer 2016 gebe es keine eindeutigen Beweise, dass dafür die Gülen-Bewegung verantwortlich sei.

Ein Putschversuch, der als Sofortreaktion, wie aus dem Handbuch der totalen Machtergreifung, landesweite Massenverhaftungen und eine von langer Hand geplante Säuberungsaktion sämtlicher staatlicher Institutionen ausgelöst hat.

Wir kennen das aus der deutschen Geschichte – vom Reichstagsbrand.

Seit 235 Tagen sitzt Deniz Yücel in Untersuchungshaft und soll offenbar als Geisel, so wie der Menschenrechtler Peter Steudtner, gegen verfolgte türkische Journalisten ausgetaucht werden, die zurecht politisches Asyl in der Bundesrepublik erhielten.

Auf einen solch schäbigen Deal dürfen wir uns nicht einlassen. Es gibt andere Möglichkeiten die Freilassung der politischen Gefangenen zu bewirken und Präsident Erdogan zur Räson zu bringen. Wie wäre es, wenn wir endlich das machen, was allenthalben gefordert wird: die Hermesbürgschaften einstellen, die Waffen-lieferungen stoppen und die Konten des Erdogan-Clan und korrupter AKP-Politiker sperren. Zu dem sollte der Missbrauch von Interpol zur politischen Verfolgung von unliebsamen Regimegegnern unterbunden werden.

Bei der türkischen Schriftstellerin und Journalistin Asli Erdogan ist der Vorwurf noch abstruser.

Ihr angebliches Vergehen besteht vermutlich darin, dass sie über die Bedingungen in türkischen Gefängnissen, über Gewalt gegen Frauen und staatliche Repression gegen Kurden berichtet hat.

Zudem wird ihr übel genommen, das sie das offiziell verordnete Leugnen des Völkermords an den Armeniern nicht eingehalten hat. Ein grausamer Genozid während des ersten Weltkrieges, den schon Franz Werfel in seinem Roman “Die 40 Tage des Musa Dagh” beschrieben und den der deutsche Bundestag unlängst in einer Erklärung thematisiert hat. Nicht als Vorwurf, sondern weil das deutsche Kaiserreich ein Verbündeter und deswegen mitverantwortlich war. Auch weil wir wissen, wie belastend und verhängnisvoll die Verdrängung von Verbrechen und dunklen Geschichtskapitel sein kann. Weil wir überzeugt sind, dass sich unsere Zukunft auch in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit entscheidet.

Bei Präsident Erdogan hat das schlimme Zornausbrüche ausgelöst, zu indiskutablen Verbalattacken und absurden Faschismusvorwürfen gegenüber Deutschland und deutschen Politikern geführt. Ausgerechnet von einem, Mann, der selbst einer schlechten Kopie von dem gleicht was Deutschland überwunden hat.

Was den Umgang mit der Türkei anbelangt brachte der zurückliegende Bundestagswahlkampf eine frappierende Überraschung.

Auch wenn im Kanzlerduell, das mehr als Duett verlief, wichtige Themen nicht angesprochen wurden oder zu kurz kamen, gab es zumindest eine klare Aussage zur Türkeifrage. Dabei verstieg sich der SPD-Spitzenkandidat, der sich stets für den Beitritt der Türkei in die EU eingesetzt hat, plötzlich zu der apodiktischen Ankündigung, dass er, wenn er Bundeskanzler wird, sofort die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abbricht. Und das obwohl ihm geläufig sein müsste, dass man dafür die Zustimmung der Kommission und den Konsens aller Mitgliedstaaten im europäischen Rat benötigt. Ein Gremium, dass er als EU-Parlamentspräsident nicht müde wurde als “Wiener Kongreß” zu diffamieren. In dem angeblich die Landesfürsten zusammenkommen um über die Köpfe ihrer Völker zu entscheiden.

Doch wer so über die repräsentative Demokratie in der EU redet, in der demokratisch gewählte Staatsoberhäupter zu Beratungen zusammenkommen, muss sich nicht über das schlechte Image der EU wundern. Verwunderlich ist allerdings, dass er vorgibt dort als der starke deutsche Zampano aufzutreten.

Gerade in diesen angespannten Zeiten wird alles andere gebraucht als ein deutscher Polterer im Brüssler Porzellanladen. Beim Treffen der EU-Außenminister in Tallin ist diese nass-forsche deutsche Forderung auf wenig Gegenliebe gestoßen und mit einer Abfuhr für den deutschen Außenminister ausgegangen.

Gewiss müssen wir unsere Beziehungen zur Türkei angesichts der drastischen Entwicklung neu überdenken.

Während Präsident Erdogan den Rechtsstaat schleift, sucht die EU nach einer gemeinsamen Linie im Umgang mit diesem schwierigen Beitrittskandidaten. Doch dabei sind Umsicht und Bedachtsamkeit gefragt. Noch gibt es eine starke Opposition in der Türkei, die sich gegen die Usurpation wehrt. Darum dürfen die Kontakte und Gespräche mit der türkischen Zivilgesellschaft nicht abreißen.

Unabhängig von den derzeitigen Ereignissen, sollten wir allerdings einen viel zu lange verschleppten Fehler korrigieren, der seinen Ursprung im Jahr 1961 hat.

Damals, nach dem Mauerbau, reifte in der auf Erweiterung angelegten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die Überzeugung, dass der hermetisch abgeriegelte und unter sowjetischer Hegemonie stehende Ostblock dafür nicht mehr in Betracht kommt. Es lag außerhalb der Vorstellungskraft, dass Länder wie Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien oder gar Ostdeutschland irgendwann mal Anschluss an den wertebasierten Westen finden könnten.

Einzig vorstellbar war eine Erweiterung in Richtung Türkei. Schließlich hatte Kemal Atatürk seinem Land mit rigorosen Methoden vorgeschrieben Teil der modernen Welt und westlichen Zivilisation zu werden. Aus diesem Erbe nährte sich das Interesse der türkischen Eliten, in Europa dazuzugehören. Ein Anspruch der fast so alt ist, wie das Projekt der europäischen Integration.

Im Herbst 1963 kam es dann zur Unterzeichnung eines Assoziierungsvertrages. Darin heißt es etwas umständlich: “Sobald das Funktionieren des Abkommens es in Aussicht zu nehmen gestattet, dass die Türkei die Verpflichtungen aus dem Vertrag zur Gründung der Gemeinschaft vollständig übernimmt, werden die Vertragsparteien die Möglichkeit eines Beitritts der Türkei zur Gemeinschaft prüfen.”

Anders als die türkische Seite es gern darstellt, lässt sich daraus kein Anspruch auf eine Mitgliedschaft ableiten. Da die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der Türkei alles andere als kompatibel erschienen, wurde eine sehr lange Perspektive veranschlagt.

Zur gleichen Zeit, also ab 1961, kam es in der Bundesrepublik, da die Abstimmung mit den Füßen und Flucht von Arbeitskräften aus der DDR unterbrochen war, zur verstärkten Anwerbung von türkischen Gastarbeitern.

Doch im Zuge der friedlichen Revolution im Herbst 89 in der DDR und ihrer Fortsetzung in Osteuropa hätte der Erweiterungsrahmen der EU neu definieren werden müssen.

Es war ein Fehler, dass der Epocheumbruch nicht für eine Inventur genutzt wurde. Denn in all den Demonstrationen, die wir in Leipzig, Prag bis Budapest und Tallin erlebt haben manifestierte sich der Wunsch und Wille zu einer Rückkehr nach Europa. Von Ländern, die man in dieser Hinsicht längst abgeschrieben hatte.

Deswegen hätte man mit dem Versprechen der Osterweiterung der EU andererseits der Türkei die ehrliche Antwort geben müssen, dass eine Mitgliedschaft nicht mehr in Betracht kommt. Doch das Ende des Kalten Krieges und die Überwindung der Spaltung Europas hat die EU unvorbereitet getroffen und es wurden die erforderlichen Konsequenzen versäumt.

Bis heute ist die Finalität, das was die EU einmal werden soll, nicht geklärt. Eine britische EWG, nach dem Motto: Einer Wird Gewinnen oder ein Spiel ohne Grenzen kann es nicht sein. Mittlerweile besteht Überdehnungsgefahr. Deswegen darf aus der Erfüllung der Beitrittskriterien kein Automatismus zum Beitritt abgeleitet werden.

Heute klopfen mit der Ukraine und Moldawien Länder an die Tür der EU, die in den letzten Jahren mehr Reformen und Anpassungsleistungen vollbracht haben als die Türkei in den über 50 Jahren ihrer Anwartschaft. Inzwischen gehen Ankaras Interessen ohnehin in die Richtung einer nahöstlichen Regionalmacht.

Ziel der EU sollte es sein, einen Bereich guter Partnerschaftsbeziehungen zu schaffen. Sowohl mit der Türkei als auch mit Russland.

Für die Klarheit, dass ein Beitritt der Türkei nicht mehr in Frage kommt ist es nicht zu spät. Sie sollte nicht erst erfolgen, wenn dort zur Aufhebung der Gewaltenteilung auch noch die Todesstrafe eingeführt wird.

Diese ehrliche Antwort würde im Übrigen der Behandlung der ebenfalls eingegangenen Bewerbung Marokkos entsprechen, die mit der Begründung abgewiesen wurde, dass nur europäische Staaten für eine Mitgliedschaft in Frage kommen.

Im Fall der Türkei kommt hinzu, dass sie weit davon entfernt ist die Kopenhagener Aufnahmekriterien zu erfüllen. Nach wie vor bestehen schwere Defizite hinsichtlich, der institutionellen Stabilität, einer demokratisch und rechtsstaatlichen Ordnung, der Wahrung der Menschenrechte sowie der Achtung und dem Schutz von Minderheiten. Zudem sind der Dauerkonflikt mit Griechenland und die Besetzung Zyperns von besonderer Brisanz.

Dagegen gab es immer das Argument: ein Zurückweisungsschock und gekränkter Stolz könnte dazu führen, dass die Türkei ins Chaos driftet. Was offenbar, wie wir sehen, auch durch die eingeschlagene Innenpolitik möglich ist.

Doch kann die EU bei all ihren internen Problemen ein Land gebrauchen, das bei Enttäuschung zur Bedrohung wird? Das trotz allem Entgegenkommen auf die europäische Charta der Grundrechte pfeift und dessen Präsident lauthals damit droht uns mit der Abschiebung von Flüchtlingen in Bedrängnis zu bringen?

Aus einem vermeintlichen Reformer ist ein Despot geworden. Fatal nur, das eine Mehrheit der in Deutschland lebenden türkischen Mitbürger, die hier den demokratischen Rechtsstaat genießen, per Verfassungsreferendum für dessen Abschaffung in der Türkei gestimmt hat. Das hat stark polarisiert und Befremden ausgelöst.

Am Vorabend des 9. Oktober ist festzustellen: Die friedliche Revolution hat den Gründungsmythos der Europäischen Union erweitert. Zu einem Europa, das nicht nur auf Versöhnung und der Friedensidee der großen alten Männer beruht, sondern auch auf dem Freiheitswillen der vielen Frauen und Männer, die ohne Gewalt eine Diktatur gestürzt und aus eigener Kraft die Demokratie, als das politische Regelwerk der Freiheit errungen haben.

Doch Freiheit ist anstrengend und Vielfalt kann zur unerträglichen Last werden.

Tief greifende Veränderungen durch die Globalisierung, neue Unübersichtlichkeiten durch eine extreme Informationsflut und Migration tun ihr Übriges. Daraus erwachsen, offenbar vorwiegend bei ostdeutschen Männern, Gefühle von Überdruss, Überforderung, Unzufriedenheit und Frust, die wiederum zu Angst, Wut und Hass führen. Darum hört man gern die Botschaft, dass man sich aus dieser komplizierten und vernetzten Welt in ein Land zurückziehen kann, in dem einfache Wahrheiten existieren, klare Kante und übersichtliche Verhältnisse herrschen.

All das bedarf der genaueren Analyse jenseits der volkspädagogischen Belehrung.

Merkwürdigerweise hat die wichtige Frage, wie es in Europa weitergeht im Bundestagswahlkampf keine große Rolle gespielt.

Zum Glück hat jetzt der französische Präsident Macron der Idee eines vereinten Europas neues Leben eingehaucht. Seine Reformvorschläge zeichnen keine roten Linien, sondern aussichtreiche Horizonte.

Hoffen wir darauf, dass die anstehenden Koalitionsverhandlungen bald eine handlungsfähige Regierung ergeben. Damit Deutschland möglichst rasch einen konstruktiven Part bei Mitgestaltung der EU übernimmt. Jetzt geht es nicht um Parteien, nicht nur um unser Land, sondern um Europa.

Die Wutbürger gegen das weitere Zusammenwachsen der europäischen Nationen aufzuhetzen, dürfte eine leichte Übung für die nun im Bundestag vertretenen Rechtspopulisten sein. Sie wollten ohnehin den Euro loswerden und zur D-Mark zurückkehren. Die Gelegenheit, das Establishment, die da oben, die angeblich volksverräterischen Systemparteien in europäischen Einigungsfragen vorzuführen, könnte dem gärigen Haufen womöglich den Weg zu seiner Gründungsidee und zum innerparteilichen Frieden bahnen.

Lauthals verkünden sie, dass sie sich ihr Volk, ihr Land zurückholen wollen. Doch die übergroße Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger will nicht zurück in ein völkisches Gauland. Drum bewahren wir unsere Zivilgesellschaft. Verteidigen wir unsere weltoffene, soziale, liberale und vielfältige Bundesrepublik Deutschland.

Klar ist aber auch: Die Europäische Union kann und wird nicht so bleiben, wie sie heute ist. Alle, denen ein vereintes, starkes und demokratisches Europa am Herzen liegt, setzen darauf, dass wir eine verbesserte, eine erneuerte EU erreichen. Also mehr Europa, dass heißt mehr Demokratie, mehr Solidität und Solidarität, mehr Nachhaltigkeit und mehr Klimaschutz.

Die europäische Union ist kein Bundesstaat, sondern ein Staatenbund, der durch seine Gemeinschaftspolitik unser Zusammenleben gestaltet. Keine Militärmacht, wie die Vereinigten Staaten von Amerika. Aber auch nicht so schwach wie die Vereinten Nationen. Die EU wird auch bei vertiefter Integration ein Europa der Nationen und Regionen bleiben.

Die Vereinigten Staaten von Europa halte ich für den falschen Zielbegriff. Schon weil sich Kalifornien und Texas weniger von Alabama und Montana unterscheiden als Schweden oder Frankreich von Bulgarien. Wir haben keine gemeinsame Sprache und Kultur. In der EU der 28 Staaten werden 24 Sprachen gesprochen. Das ist nicht der Turm von Babel oder Brüssel, sondern ein Schatz – unsere viel beschworene Einheit in Vielfalt.

Zwar hat die EU keine Hymne, bei der sich die Hand aufs Herz legt. Allenfalls einen Eurovision Song Contest – der die Herzen höher schlagen ließ als Lena dabei war und unsere gewachsene Toleranz zeigte als Conchita Wurst gewann.

Würden wir die Ode an die Freude singen, die inoffizielle Europahymne, dann würde nicht nur der Gemeinschaftsgedanke „alle Menschen werden Brüder“ durchschillern, sondern auch eine Lösung der endlosen Finanzkrise, denn da heißt es weiter: “Unser Schuldbuch sei vernichtet, ausgesöhnt die ganze Welt”.

Allerdings ist das Europa der gemeinsamen Münzen noch kein Europa der Bürgerinnen und Bürger. Noch hat die große Idee keine Seele. Gerade jetzt, wo so vieles auf dem Prüfstand steht, Großbritannien die EU und Katalonien Spanien verlassen will, muss sich Deutschlands Stärke in der Verantwortung für Europa zeigen. Hat unsere deutsch-deutsche Erfahrung, dass wir die Teilung durch Teilen überwinden können eine neue Herausforderung, eine europäische Dimension bekommen.

Mich öden darum die Furcht einflössenden Untergangsszenarien an. Schon vor Jahren hat das Flaggschiff des deutschen Journalismus auf seiner Titelseite den Euro versenkt. Das mag die Auflage steigern, aber nicht den Wahrheitsgehalt. Seit Jahren suche ich vergeblich danach, dass einer der kühnen Propheten, die so flotte Behauptungen und vernichtende Beiträge in Umlauf bringen auch mal reflektiert, dass er grandios daneben gelegen hat und sich selbstkritisch mit seiner Fehleinschätzung von gestern befasst.

Ich weiß Medienkritik kommt schlecht an. Dieses Tabu hat allerdings zu einem selbstgefälligen Schutzwall geführt. Es wäre gut wenn sich die Vertreter der Medien gelegentlich mal über den Schnee von gestern beugen und die verbliebenen Wässerchen klären würden. Denn nicht nur die Politik hat Verantwortung. Auch die vierte Gewalt. Deswegen sollte das Leitmotiv für Journalisten nicht nur lauten: “Sagen, was ist”, sondern auch “Sagen, was gut ist”, “Sagen, was falsch war”.

Denn wir pflegen in Deutschland einen Journalismus, der das Haar in der Suppe sucht. Und wenn er keins findet solange den Kopf darüber schüttelt bis eins hineinfällt.

Dann wird die Große Koalition zur krokodilartig schläfrig klingenden “Kroko” erklärt und solange niedergeschrieben bis die eigenen Krokodilstränen über deren miserables Wahlergebnis fließen. Obwohl die Große Koalition keine Dauerlösung sein kann, hat sie wesentlich mehr geleistet als versprochen wurde. Dass sie erfolgreich und reibungslos so lange unser Land regiert hat fand wenig Anerkennung. Es verlangt schon mühsame Detailarbeit um darüber interessant und verständlich zu informieren.

Von Debattenverweigerung und vom Aussitzen war die Rede. Doch wehe man hätte sich gestritten, in der in Deutschland so beliebten Umarmungsdemokratie, dann wäre das Zerwürfnis, der personalisierte Zoff ein Dauerthema gewesen.

So wurde der Wahlkampf wie Valium rezipiert. Das etliche Probleme nicht angesprochen wurden lag aber auch oft daran, dass die professionellen Fragesteller nicht die relevanten Fragen fanden. Plötzlich herrscht dann mediale Aufregung, ist vom politischen Erdbeben die Rede, als hätte man die tektonischen Ausläufer nicht hören und sehen können. Doch irgendwie wollte man das nicht wahr haben.

Ist es Ratlosigkeit oder Hochmut, wenn eine weltweit angesehene und respektierte Politikerin, die unser Land in all den Turbulenzen und enormen Herausforderungen gut und weitsichtig regiert hat, als Mutti verunglimpft wird? Eine, die sich um den Haushalt und die Familie kümmert, aber ansonsten keine politische Peilung besitzt. Was ist das für ein Armutszeugnis emanzipierter Politik zu meinen: Mutti sei an allem Schuld? Es gleicht der infantilen Entrüstung: das hat Mutti jetzt davon, dass ich friere, wenn sie mir keine Handschuhe angezogen hat. Hinzu kommt der Vorwurf, dass diese Frau schon viel zu lange regiert und endlich den Platz räumen sollte. Ein dezent verpacktes „Hau ab“!

Es mag ja sein, dass mancher sich die Augen reibt und die Finger wund schreibt, weil er diese unprätentiöse Frau aus der Uckermark nicht zu fassen bekommt, weil sie sich dem geschwätzigen Politikbetrieb entzieht, wo etliche Journalisten sich mehr als Politikberater verstehen und erwarten, dass ihre Leitartikel prägenden Einfluss erlangen.

Andernfalls ist Politiker Bashing angesagt. Dass nicht zuletzt auch von Journalisten kultiviert wird, die von der politischen Klasse reden, in die sie voll integriert sind. Dieses neurotische Verhältnis zu Politikern ist ein ernstes Problem. In ihrer Eliteorientierung gerät das Verständnis für die Nöte einfacher Menschen mitunter zu kurz. Kein Wunder, das aus Politikverdrossenheit Politikverachtung geworden ist und den Mitverantwortlichen der unhaltbare Vorwurf der Lügenpresse entgegen schallt.

Kein Begriff der an einem Montagabend vom Dresdner Himmel gefallen ist. Er hat eine lange Geschichte und gehört seit dem 19. Jahrhundert ins Arsenal der politischen Kampfvokabeln. Mal wurde er von rechts mal von links gegen die Presse- und Meinungsfreiheit verwendet. Eine primitive Methode, wie man sich unangenehme Fakten vom Hals schafft.

Nicht erst seit Donald Trump leben wir angeblich in postfaktischen Zeiten. Umgeben von Fake-News. Schon Silvio Berlusconi und erst recht Wladimir Putin beherrschen diesen Schwindel.
Doch wie sagte der 2003 verstorbene US-Senator Moynihan: “Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber keiner das Recht auf eigene Fakten”.

Wer andere Lügner nennt, setzt sich selbst auf den Thron der Wahrheit. Nicht Verunsicherung, sondern die resolute Gewissheit im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, kennzeichnet Populisten.

Die Medien sind dem Vorwurf ausgesetzt, die AfD aufgewertet zu haben. Sie war immerhin öfter Thema als die Alltagssorgen der Menschen draußen im Land. Eine gängige Floskel, die vom Parlament in die Redaktionsräume mäandert ist. Jedes provokante Zitat das aufgegriffen und durchgekaut wurde, all die Bilder wütender Trillerpfeifen und Hau-ab-Rufer haben das Protestpotential der AfD eher verstärkt und zur Nachahmung angeregt anstatt das die Ablehnung die Zumutungen gebannt hätte.

Es bleibt eine schwierige Gratwanderung zwischen Aufwertung und Aufklärung. Insbesondere im Zusammenhang mit den sozialen Medien, in denen alles verbreitet wird, egal ob erfunden oder belegt. Wo Algorithmen zu Redakteuren werden und die User in Filterblasen und Echokammern vor allem mit solchen Inhalten versorgt werden, die der eigenen Meinung entsprechen.

Lebendige Demokratie braucht deswegen kritischen, gut informierten, unabhängigen und professionellen Qualitätsjournalismus.

Nicht mehr das von Karl Marx beschriebene Gespenst geht heute um in Europa, sondern ein Gespenst von vorgestern, das Gespenst des Nationalismus. In fast jedem europäischen Land brüllen und marschieren sie jetzt, die vermeintlichen Patrioten und Identitären, die den Schlafwandlern von 1914 gleichen.

“Mit populistischen Dummheiten”, schreibt Evelyn Roll, “nationalistischen Abschottungsphantasien, Verschwörungstheorien und Scheinlösungen sammeln sie die Stimmen der Verunsicherten und Überforderten, der Abgehängten, Entkoppelten, der Denkfaulen und Verbitterten. Sie wollen vor allem eines: an die Macht. Und dann? Autokratien errichten, illiberale Scheindemokratien nach dem Muster Putin oder Erdogan. Und weiter? Europa abschaffen”.

Es liegt an uns, wie weit sie kommen. Ihnen und auch Präsident Erdogan sollten wir die türkische Lebensweisheit entgegenhalten:

“Gleich an welchen Punkt eines Irrweges man umkehrt, es ist immer ein Gewinn!”

S.E. Erzbischof Dr. Heiner Koch

Archdiocese Berlin

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Es gilt das gesprochene Wort.

Leipzig, 7. Oktober 2016

Freiheit als Versprechen

I.

“Jeder soll auf seine eigene Geschichte blicken und erst dann andere mit Schmutz bewerfen.” So forderte Can Dündar Ende Juli. Via Twitter hatte er damals eine Stellungnahme zu den aktuellen Entwicklungen in der Türkei veröffentlicht. In aller gebotenen Kürze will ich das Erste seines Ratschlags befolgen: auf die eigene Geschichte blicken. Natürlich nicht um mich selbst oder die katholische Kirche, von der allein ich sprechen kann und will, rein zu waschen, sondern: Weil doch nur derjenige, der den selbstkritischen Blick in den Spiegel der Geschichte nicht scheut, authentisch und wahrhaftig von eigenen Freiheitserfahrungen sprechen und für die Freiheit werben kann. Weil er oder sie die Gegenwart besser deuten und die Zukunft mutiger gestalten kann.

Die katholische Kirche hat sich schwer getan mit der Moderne. Lange Zeit lehnte sie moderne Freiheiten wie die Meinungs- und Pressefreiheit rundheraus ab. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sie sich auf einen Kurs festgelegt, der nachwirkte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Es war eine Zeit, in der “Europa zwischen Restauration, Reform und Revolution” schwankte, eine Zeit, in der sich innerkatholisch die strengkirchliche Richtung des Ultramontanismus herausbildete und durchsetzte. 1832 schrieb Papst Gregor XVI. in der Enzyklika “Mirari vos”: Die Gewissensfreiheit sei “eine törichte und falsche Ansicht, die man besser als Wahnsinn bezeichnet”.

Eine “vollkommen übermäßige Meinungsfreiheit” machte er als “Wegbereiter[in] für diesen überaus verderblichen Irrtum” aus. Vor allem die Buchdruckerkunst verfügte für den Papst über eine “von Grund auf schlechte, niemals ausreichend verurteilte Freiheit”. Und nicht zuletzt beklagte er “die aus der Pressefreiheit hervorgehende Flut an Irrtümern”. Sein Argument: “Welcher vernünftige Mensch würde behaupten, dass Gifte frei verbreitet sowie öffentlich verkauft und angeboten, ja sogar getrunken werden dürfen, weil damit […] gelegentlich jemand vor dem Untergang gerettet werden kann?” Die modernen Freiheiten – ein krankmachendes Gift, vor dem die Menschen geschützt werden mussten, am besten durch das restaurative Bündnis von Thron und Altar. Bei dieser antimodernen Haltung des Katholizismus blieb es für viele Jahrzehnte.

Die entscheidende Wende brachte das Zweite Vatikanische Konzil. Von 1962 bis 1965 versammelten sich die katholischen Bischöfe aus aller Welt in Rom, um über die Kirche in der Welt von heute nachzudenken. Ausdrücklicher als jemals zuvor anerkannte das Konzil im Namen der katholischen Kirche die Forschungs-, Meinungs-, Kunst- und Pressefreiheit. Die Autonomie von Mensch, Gesellschaft und Wissenschaft bringe die Religion nicht in Gefahr, so das Konzil. Sie sei nicht krankhaft, sondern durch und durch gesund.
Mit Blick auf die Medien folgte daraus die Überzeugung: “Die Zusammenarbeit aller im Dienst des gesellschaftlichen Fortschritts bedarf der ungehinderten Gegenüberstellung der als wichtig erachteten Meinungen, damit im Spiel des Gebens und Nehmens, der Ablehnung und Ergänzung, auf dem Weg der Einigung und des Kompromisses die am besten begründeten und gesicherten Ansichten zum gemeinsamen Handeln zusammenführen können.”

Erst 1966 wurde der in der Folge der Reformation 1557 eingeführte römische “Index der verbotenen Bücher” abgeschafft. Schon diese eine Tatsache macht deutlich, welche rasante Entwicklung die katholische Kirche innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit durchlaufen hatte. Den längst überlebten Anspruch auf eine Totalkontrolle des gesamten Geisteslebens gab sie endgültig auf. Von der grundsätzlichen Ablehnung hatte sie zur vollen Anerkennung der modernen Freiheiten gefunden – inklusive der Medien- und Pressefreiheit.

II.

Welche Erkenntnis lässt sich aus diesen kirchengeschichtlichen Andeutungen gewinnen? Hatte der Katholizismus in der Mitte des 20. Jahrhunderts einfach eine 180-Grad-Kehre in seinem Verhältnis zur Moderne vollzogen? Die historischen Indizien scheinen darauf hinzudeuten. Ich glaube dennoch, dass etwas ganz anderes vor sich gegangen war. Denn gerade in der sogenannten pianischen, von Papst Pius IX. bis Papst Pius XII. geprägten Ära der Kirchengeschichte von etwa 1850 bis 1950 bildeten sich innerhalb der katholischen Kirche ja gerade jene Vorstellungen und Denkmuster heraus, die diesen Modernisierungsschub vorbereiteten und überhaupt ermöglichten. Vor 125 Jahren, 1891, erschien die Enzyklika “Rerum novarum” von Papst Leo XIII. Sie hob nicht nur die “soziale Frage” in das Bewusstsein von Millionen Katholiken. Sie stieß entscheidend auch die Entstehung der christlichen Sozialethik als einer akademischen Disziplin an, die heute zum selbstverständlichen Fächerkanon der Theologie gehört und inzwischen (neben der Bioethik) die Medienethik als eines ihrer herausforderndsten neuen Arbeitsgebiete begreift. Hier kristallisierten sich Grundperspektiven heraus, die auch nach dem Zweiten Vatikanum und im Kern bis heute Bestand haben. Sie verdichteten sich nach und nach zu einem Prinzipientraktat mit universalem Anspruch. Er lässt sich mit Gewinn auch heranziehen, um Fragen der Pressefreiheit und der digitalen Medienrevolution zu bedenken, mit der wir es heute zu tun haben.

Mit Gewinn übrigens, so wage ich zu hoffen, nicht nur für solche, die sich Christen nennen, und nicht nur für religiöse Menschen, sondern auch für solche, die sich selbst durch und durch als säkulare Zeitgenossen verstehen. Ich will dazu im Folgenden einige Überlegungen anstellen.

Freiheit ist heute einer der zentralen Begriffe unserer Kultur: in Politik und Gesellschaft, in Wirtschaft und Recht ist er allgegenwärtig, hier in Deutschland genauso wie in Europa und in aller Welt. Aber was ist das eigentlich: Freiheit? Und was soll heißen: Freiheit der Medien und der Presse? Wer genau ist da in welcher Hinsicht frei? Und frei wovon und wofür? Ich bin überzeugt: Der Freiheitsgedanke hat tiefe religiöse Wurzeln vor allem auch im Christentum. Die christliche Stimme hat daher als eine unter vielen auch heute noch Wesentliches zum demokratischen Freiheitsdiskurs beizutragen.

Nicht der Staat, nicht die Gesellschaft, nicht das Recht, weder religiöse noch säkulare Einrichtungen und Institutionen “schaffen” Freiheit, bringen sie gleichsam wie ein Produkt aus sich selbst hervor, über das sie dann ihrerseits wieder frei verfügen könnten. Freiheit wurzelt in der Würde des Menschen, in der Würde der menschlichen Person. Worin diese Würde des Menschen gründet, ist allerdings umstritten und doch so wesentlich. Manche bezweifeln sogar, dass es eine unbedingte Würde des Menschen überhaupt gibt. Für Juden und Christen hat die Würde des freien Menschen ihre letzte Wurzel darin, dass der Mensch Abbild Gottes ist. Größeres lässt sich, so glaubt die jüdisch-christliche Tradition, vom Menschen nicht sagen, als dass er nach dem Bilde Gottes geschaffen sei. In dieser Ebenbildlichkeit besteht seine unverlierbare Würde.

Das sollte diese Würde vor jedem unbefugten Zugriff schützen – und tut es doch, wie wir leider nur allzu gut wissen, in der Wirklichkeit längst nicht immer und überall. Unser deutsches Grundgesetz bringt den gemeinten Gedanken von Größe und Ohnmacht der menschlichen Würde in dem schönen Begriff der “Unantastbarkeit” zum Ausdruck. “Die Würde des Menschen ist unantastbar.” (Art 1 GG). Aber offensichtlich wird seine Würde immer wieder angetastet, ist bedroht und wird verletzt. Die Würde des Menschen fordert von ihm aber auch, so das Zweite Vatikanische Konzil, “dass er gemäß einer bewussten und freien Wahl handelt, nämlich personal, von innen her bewegt und veranlasst, und nicht unter blindem inneren Drang oder unter dem bloßen äußeren Zwang.” Weder innerer Drang noch äußerer Zwang! Der Mensch, soll das heißen, ist weder sich selbst noch anderen einfach ausgeliefert. Er kann sich zu sich selbst und zu anderen verhalten und tut dies faktisch auch immer. Das macht seine Freiheit und Würde aus. Durch keine Macht der Welt kann sie ihm entzogen werden. All das gründet in seinem Personsein, in seiner Personalität – das erste Prinzip der christlichen Sozialethik.

Allerdings: Freiheit ist und bleibt ein Versprechen. Ein Versprechen, das sich nicht immer erfüllt, nicht immer erfüllen kann. Wir erleben das jeden Tag. Da sind eben doch tausenderlei innere Einstellungen und äußere Einflüsse, die uns hemmen und hindern, Unwägbarkeiten aller Art, die wir niemals im Griff haben werden. Freiheit – das soll ja bedeuten: “unbedingtes Sichverhalten, grenzenloses Sichöffnen und ursprüngliches Sichentschließen”, die “Fähigkeit zur Selbstbestimmung also”.

Ein hoher, ja, eigentlich zu hoher Anspruch, eine andauernde Überforderung der conditio humana. Freiheit kann daher nicht nur gelingen, sie kann auch misslingen. Sie kann nicht nur gebraucht werden, sie kann auch missbraucht werden. Sie lässt sich überspannen und kann sich selbst verfehlen. Und: Sie kann sich schuldig machen, Schuld auf sich nehmen, indem sie sich – statt die eigene Freiheit und die der anderen anzuerkennen – gegen sich selbst oder andere Freiheiten richtet. Achte ich wirklich die Grundüberzeugungen, Werthaltungen und Lebenseinstellungen des anderen, oder denke ich im Grunde genommen gering von ihm? Respektiere ich seine abweichende Meinung, oder suche ich ihn heimlich doch zu majorisieren, im unguten Sinne zu missionieren, meine eigene Sichtweise zu monopolisieren? Ist ein Journalismus noch frei, der sich von politischen und wirtschaftlichen Interessengruppen, vom Druck auch der journalistischen Mehrheitsmeinung einspannen lässt? Und umgekehrt: Ist das Freiheit, wenn Menschen zumal in den sozialen Medien immer nur dem eigenen Urteil vertrauen, der Sichtweise der anderen aber und zumal jenem Perspektivenreichtum, der in der so genannten Lügenpresse zum Vorschein kommt, mit hochmütiger Skepsis begegnen? Hier wird Freiheit zur Herausforderung. Hier bewährt sich auch die Medien- und Pressefreiheit.

Ein gutes Beispiel, an dem sich die komplexen Grenzverläufe verdeutlichen lassen, ist das satirische Fach. Humor, Ironie und Polemik stellen wertvolle Mittel dar, um pointierte Kritik an Missständen zu üben und auf Problemüberhänge hinzuweisen, die in Politik und Wirtschaft, in Religion und Gesellschaft drängend sind. Aber mitunter hat man den Eindruck, als ob dabei die Werte und Gefühle des anderen gar nicht mehr zählten, als ob jegliche Empathie verloren gegangen wäre.

Wie schnell ist dann die Grenze zum bloß noch zerstörerischen und zweckfreien Zynismus überschritten, der verletzt um der Verletzung willen. Satire kann harte Gewalt sein – um der Freiheit willen? Wichtig ist ja nicht nur das, was gesagt wird, sondern auch wie es gesagt wird. Ich stelle das immer wieder an mir selbst und bei anderen fest, nicht nur, aber gerade eben auch, wenn es um religiöse Zusammenhänge geht. Nicht nur der Inhalt zählt, sondern auch die Form, in der etwas vorgetragen wird, die Sprache, deren Stil, Duktus und Intonation. Der Ton macht die Musik.

Wer Freiheit sagt, der muss daher unmittelbar Verantwortung dazu sagen – Verantwortung für sich selbst und Verantwortung für andere. Nur verantwortete Freiheit wird der menschlichen Würde wirklich gerecht. Aus unserem Personsein selbst ergibt sich das Erfordernis, miteinander solidarisch zu sein. Niemand kann sich auf seine Freiheitsrechte berufen in dem Glauben, dass damit keinerlei Verantwortungspflichten einhergingen. Das Wohl des Einzelnen, der vielen Einzelnen lässt sich ja nur erreichen, wenn Sorge für das Gemeinwohl getragen wird, für Frieden, Zusammenhalt und soziale Gerechtigkeit. Der Freiheit entspricht daher die Verantwortung, dem sozialethischen Prinzip der Personalität das Prinzip der Solidarität. Und Solidarität bedeutet, wie Papst Johannes Paul II. einmal sagte, nichts anderes als “die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das ‘Gemeinwohl’ einzusetzen, das heißt für das Wohl aller und eines jeden, weil wir alle für alle verantwortlich sind”.

Aber was heißt das wieder konkret? Übe ich mich selbst in verantwortlichem Denken, Reden und Handeln? Übernehme ich tatsächlich Verantwortung für meine Freiheit und die des anderen, ganz konkret? Engagieren wir uns für Formen der informationellen Beteiligungsgerechtigkeit, die nicht nur die Rechte von Medienproduzenten im Blick behalten, sondern auch die der Medienkonsumenten, so sehr diese Rollen inzwischen auch verwischen mögen? Stehe ich für das Recht eines jeden ein, seine Meinung – auch wo sie mir unangenehm ist – in das Forum der Öffentlichkeit hineinzutragen, in der Hoffnung, dass dieser seinerseits seiner Verantwortung gerecht wird? Wo Medienvertreter in Kauf nehmen müssen, dass ihr Einsatz für Freiheit und Demokratie keinen geringeren Preis hat als den ihrer eigenen Freiheit, ihrer eigenen demokratischen Grundrechte, da übernehmen freie Menschen die Kosten für die Verantwortung, die sie tragen. Unsere beiden Preisträger Can Dündar und Erdem Gül verkörpern diese Haltung vorbildhaft. Journalisten wie sie, die in selbstauferlegtem Schweigen, im erzwungenen Exil oder im Gefängnis leben müssen, nehmen aber auch uns in die Pflicht. Wir leben in einer Gegenwart, in der bei uns in Deutschland, aber auch andernorts und im internationalen Zusammenhang die gesellschaftlichen Spannungen in einer Art und Weise zunehmen und sich verstärken, die noch vor kurzem unvorstellbar gewesen wäre. Das ist besorgniserregend. Wir leben wie nie zuvor in einem Zeitalter intensiver religiöser Verfolgungen, ohne dass wir davon allzu viel Kenntnis nähmen. Wir sehen, wie das freie Wort zur Bedrohung nicht nur für die berufliche Existenz, sondern für Leib und Leben überhaupt werden kann – nicht zuletzt mit religiöser Begründung. Das ist – ich möchte das in aller Deutlichkeit sagen – schlicht unerträglich, beschämend und infam!

Aber wiederum: Freiheit und Verantwortung, Personalität und Solidarität, Individualität und Sozialität – ist das wirklich mehr als eine Anhäufung von großen Worten, mehr als eine Verheißung, eine fromme Utopie? Ich bin überzeugt: Im Kern geht es um unsere Fähigkeit zur Gemeinschaft, zur communio, anders gewendet: um das Versprechen gelingender Kommunikation in Wort und Tat – unter grundlegend sich verändernden Bedingungen. Aber auch Kommunikation – wir wissen es nur zu gut – kann scheitern. Sie kann einseitig abgebrochen oder unterdrückt werden und in schlechtes Schweigen übergehen. Sie kann einfach misslingen. Nicht kommunikative Resonanzräume entstehen dann, die das wechselseitige Verstehen fördern, sondern Echo-Räume, in denen sich bestimmte Auffassungen in endlosen Feedbackschleifen immer nur selbst verstärken und bestätigen. Besonders schlimm ist es, wenn sie sich schließlich zu abgeschotteten Meinungsmilieus verfestigen und zu dogmatischen Mainstreams erstarren, die außerhalb ihrer selbst nichts anderes mehr wahrnehmen wollen und schon gar nicht akzeptieren können. “Die Tugend demokratischer Politik ist ‘Mitleidenschaft'”, so ist gesagt worden. In der Tat! Sind wir noch berührbar für Leid, das nicht unser eigenes ist? Aufmerksam für Verletzlichkeiten, die sich von unseren eigenen unterscheiden? Kommunikation kann zuletzt manipuliert und missbraucht werden. Sie wird mitunter sogar gewaltförmig und aggressiv. Auch mit Worten, so hat jüngst Papst Franziskus in Erinnerung gerufen, könne man Personen töten.

“Der Journalismus darf keine Vernichtungswaffe sein, die Einzelpersonen und sogar Völker trifft.” Klatsch und Gerade zu verbreiten, sei eine Form von Terrorismus. Mit einem Wort: Kommunikation kann zum Guten ebenso dienen wie zum Schlechten.

In den letzten Jahren ist verstärkt über den Zusammenhang von Religion und Gewalt gesprochen und gestritten worden, nicht nur mit Blick auf den Islam, sondern auch mit Blick auf das Christentum, auf das Judentum gleichermaßen wie auf Buddhismus und Hinduismus und andere religiöse Traditionen. Meine tiefe Überzeugung ist, dass Religionen im Kern ein Beitrag zum Frieden sein wollen und sollen, ein Beitrag zur Kommunikation über soziale, kulturelle und religiöse Grenzen und über vielerlei sonst unüberwindliche menschliche und zwischenmenschliche Abgründe hinweg. Der Gott, an den wir Christen glauben, ist ein zutiefst kommunikativer Gott. Mehr noch: ein Gott, den wir aus seinem innersten Wesen heraus als letzten Garanten, als Bedingung der Möglichkeit gelingender Kommunikation überhaupt begreifen. “Gott selbst ist Kommunikation”, so hat ein Theologe formuliert, “er kommuniziert sich der Welt und ermächtigt diese, selbst kommunikativ zu sein, auf dass die Schöpfung, in ihrer Kommunikation ihm ähnlich geworden, zur engsten communio mit ihm gelangt. So gesehen, geht es in der Theologie wesentlich um die Realisierung gelingender Kommunikation.” Religiöser Glaube stellt für mich eine Chance dar, aus der Spirale der Gewalt, aus dem Strudel der Missverständnisse auszubrechen. Weil er Schuld nicht durch neue Schuld überbietet oder durch den Verweis auf die vermeintlich größere Schuld der anderen.

Weil er mit pervertierter Freiheit und versagter Solidarität rechnet und dennoch auf Vergebung und Versöhnung setzt, auf Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Weil er Nachsichtigkeit erlaubt mit sich selbst und mit den Mitmenschen. Wir sind eben nur Menschen – und nicht Gott. Religiöse Überzeugungen bereiten damit den Weg für eine Kommunikation, die authentisch und wahrhaftig ist, für “die Gestaltung von Verhältnissen, die es ermöglichen, dass der Mensch in der Beziehung zu anderen und zu sich selbst aufrichtig sein kann”.

Personalität und Solidarität – das sind die ersten beiden Grundprinzipien der christlichen Sozialethik, wie sie sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ausgebildet und im 20. Jahrhundert bewährt haben. Noch ein drittes Prinzip kommt hinzu, das ich nicht unerwähnt lassen möchte. Komplexe Gesellschaften wie die unsere sind ja durch funktionale Differenzierung gekennzeichnet. Sie setzen sich – systemtheoretisch gesprochen– aus autonomen Teilsystemen zusammen, die jeweils nach ihren eigenen Codes und Regeln funktionieren: Recht und Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, Religion und Presse etc. Der selbstverständliche Anspruch auf Autonomie, den jedes dieser Teilsysteme für sich selbst reklamiert, wird deutlich, wenn wir uns vor Augen halten, wie hoch wir selbst etwa die Unabhängigkeit der Justiz veranschlagen oder die Freiheit der Wissenschaft, aber auch die Religionsfreiheit und die Pressefreiheit.
Ich glaube, dass an dieser Stelle der Subsidiaritätsgedanke hilfreich sein kann, den Papst Pius XII. im Jahre 1931 mit den folgenden Worten umschrieben hat:

“Jedwede Gesellschaftstätigkeit” sei, so der Papst, “ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.” Mit anderen Worten: Der einzelne Mensch und die kleinere soziale Einheit haben stets Vorrang vor der je größeren sozialen Einheit. Die größere ist ihrerseits zur Hilfestellung für die kleinere verpflichtet und darf sich keine Kompetenzen anmaßen, für die diese selbst aufkommen kann.

In der konkreten Anwendung bedeutet das: Der Staat darf beispielsweise in die Medien- und Pressefreiheit stets nur als ultima ratio eingreifen. Die Medien sind ja ihrer Funktion nach unverzichtbare Foren der Vermittlung und der Aneignung von Information, der Meinungsbildung und der Kritik. Sie garantieren nicht zuletzt die kontinuierliche Selbstverständigung verschiedenster sozialer Gruppen über gesamtgesellschaftlich relevante Themen und Fragestellungen. Kein Staat, kein anderer Akteur kann sie in dieser essentiellen Aufgabe ersetzen. Unser Grundgesetz hält deshalb fest: “Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet.” Und: “Eine Zensur findet nicht statt.” Aber sogleich lassen die Verfassungsmütter und -väter die eindringliche Mahnung folgen: “Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.”

Wo die Arbeit der Medien oder der Presse durch den Staat in unzulässiger Weise behindert, gelenkt oder unterbunden wird, ob teilweise oder völlig, da sind gesellschaftliche Gefüge, die auf Freiheit und Verantwortung basieren, insgesamt in Gefahr. Mitunter droht sogar – um einen weiteren Begriff von Can Dündar aufzugreifen – die Entstehung „zivile[r] Repressionsregime“. Das Subsidiaritätsprinzip will die Freiheit der Presse schützen. Aber zugleich nimmt es sie in die Verantwortung, dann auch ihrerseits die Freiheit aller anderen zu schützen, zuvorderst die der Schwachen, derer, die in unserer Gesellschaft am Rande stehen – und die der eigenen Gegner.

III.

Seit einem Jahr bin ich Erzbischof von Berlin. Vorher durfte ich Bischof des Bistums Dresden-Meißen sein, zu dem auch die Stadt Leipzig mit ihren vier Prozent Katholiken gehört. Zwei große kirchliche Ereignisse haben wir in den gut zwei Jahren, die ich hier sein durfte, erlebt: die Einweihung der neuen Propsteikirche direkt gegenüber dem Rathaus im Jahre 2015 und ein Jahr später den 100. Deutschen Katholikentag. Manche Bürgerin und mancher Bürger stand beiden Ereignissen ratlos gegenüber, bei manchen war die Stimmung erregt und aggressiv. Heftige Diskussionen gab es vor allem um die auch finanzielle Unterstützung der Stadt Leipzig für den Katholikentag. In dieser Zeit ist meine Hochachtung vor manchen Politikerinnen und Politikern, vor vielen Bürgerinnen und Bürgern, vor allem aber auch vor der Leipziger Presse stark gewachsen.

Mit ihrer offenen, wachen und kritischen Begleitung, die auch viele grundsätzliche Fragen angestoßen hat, hat die Presse wesentlich zu einem vertieften Verständnis der Menschen in Leipzig untereinander beigetragen mit ihren unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Prägungen. Die Presse hat sich als ein Ort der sachlichen Auseinandersetzung, der intellektuellen Begegnung und des Aufeinanderzugehens bewährt. In dieser Zeit ist mir sehr konkret der Wert unserer Pressefreiheit deutlich geworden. Gerade in einer Gesellschaft, in der zeitgleich viele Formen des Populismus, der Pauschalisierung, der menschlichen und politischen Ausgrenzung und Verletzung für uns alle spürbar immer stärker wurden, trug diese Art, Pressefreiheit und Presseverantwortung wahrzunehmen, wesentlich zu einem achtungsvollen Miteinander bei. Sie eröffnete vielen Leipzigerinnen und Leipzigern neue Erfahrungsmöglichkeiten, neue Horizonte. Die Welle eines erregten und simplifizierenden Verhaltens, wie ich es beschrieben habe, ist seitdem weiter angeschwollen. Sie stellt eine große Herausforderung, wenn nicht sogar eine Gefahr für unsere Demokratie dar. Umso mehr sind die Anforderungen an eine verantwortete Pressefreiheit gewachsen. An eine Presse, die Freiheit nutzt, Solidarität leistet und Subsidiarität wahrt. Die Pressefreiheit ist kein Gift und keine Krankheit. Das hat die katholische Kirche in einem langen Prozess lernen müssen, und diese Lektion gilt es nicht nur für sie selbst immer wieder neu einzuholen. Die Pressefreiheit ist, wie Heribert Prantl einmal sehr treffend formuliert hat, das “täglich Brot” für die Demokratie. Ich danke allen, die uns den Wert dieses Brotes bewusst halten: unseren Preisträgern aus der Türkei und vielen Journalistinnen und Journalisten hier in Deutschland.

Henrik Kaufholz

Manager of Scoop, Chairman of the Board of ECPMF

This speech is only available in German.

Es gilt das gesprochene Wort.

Leipzig, 8. Oktober 2015

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Darf ich Sie bitten, für einen Moment die Augen zu schliessen und sich die Weltkugel vorzustellen, so als wären Sie ein Astronaut im Weltall? Sie müssen natürlich hellwach bleiben.

Also, bleiben Sie konzentriert! Ihr Blick nimmt erst die Weltkugel ins Visier, dann schärft er sich und fällt auf eine grosse Landmasse: Asien. Sie zoomen näher heran, sehen den Kaukasus, ein zerklüftetes Gebirge; dann das Kaspische Meer, schliesslich eine Hafenstadt: Baku. Noch näher kommen Sie heran, und Sie sehen einen grauen Klotz: das Kurdukhani-Gefängnis…Dort sitzt die Journalistin Khadija Ismayilova in ihrer kargen Zelle.

So könnten Sie von

  • A wie Aserbeidschan weiterfliegen zu
  • I wie Iran, woher der Filmemacher Jafar Panahi, einer unserer heutigen Preisträger, kommt.
  • Zu R wie Russland, wo alle wichtige Medien von der Regierung kontrolliert werden – und wo eine frühere Preisträgerin, Anna Politkowskaja, die fast auf den Tag genau vor neun Jahren (7. Oktober 2006) ermordet wurde.
  • Zu T wie Türkei, aus der Journalist Nedim Sener stammt, der heute Abend hier den Preis für Freiheit und Zukunft der Medien in Empfang nimmt. Auch er hat ein Gefängnis von innen gesehen.
  • Zu U wie USA, wo Whistleblower gnadenlos verfolgt werden.

Diese Weltreise nach alphabetischer Reihenfolge der Länder können Sie fast beliebig fortsetzen.

Darf ich Sie bitten, die Augen wieder zu öffnen?

Meine Damen und Herren,
Die Medien sind unter Druck, die Pressefreiheit, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit sind akut gefährdet – und damit ist auch die Basis für eine offene und freie Gesellschaft bedroht. Allzu neu ist die Erkenntnis nicht, möge mancher entgegnen. Das stimmt, und dennoch: Hatten wir nicht alle die Hoffnung, gerade die schier grenzenlose Freiheit versprechende Welt des Internet sei die beste Garantin auch für die Freiheit des Wortes?

Tatsächlich ist in Zeiten digitalen Wandels der Druck so groß wie lange nicht mehr. Schlimmer noch: Dieser Druck auf die Pressefreiheit wird, obwohl wir in einer Welt allumfassender Informiertheit leben, hier in Westeuropa kaum wahrgenommen: Wir scheinen über alles Bescheid zu wissen. Wir haben die Welt in Form eines Smartphones in der Hosentasche. Wir sind 24/ online. Und dennoch fällt es uns zunehmend schwer, in dieser informierten Welt uns aufs Wesentliche zu konzentrieren. Und Menschenrechte, meine Damen und Herren, sind wesentlich!

Die Grundrechte werden hierzulande und in anderen Demokratien für gut gesichert gehalten – schließlich stehen Sie ja in den Verfassungen: Heißt es nicht in Artikel 5, Absatz 1, des Grundgesetzes:
“Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern…Zensur findet nicht statt”?
Erklärungen wie diese, leicht verändert in der Wortwahl, finden sich in der Menschenrechtserklärung der UNO, sie finden sich in Dokumenten des Europarats und der EU. Auf dem Papier sind diese Rechte also geschützt – aber bieten diese Dokumente wirklich den Schutz, den sie versprechen?

Man kann natürlich entgegnen: Was soll die ganze Aufregung? Ein paar Zeitungen machen dicht; ein kritisches Internetportal wird geschlossen; ein Film wird nicht in den Kinos gezeigt; oder: Im Krieg gegen den Terrorismus gibt es höhere Werte als Freiheit…nämlich Sicherheit…Aber kann es Sicherheit ohne Freiheit geben?

Ich möchte noch einige Beispiele nennen von Menschen, die ihr Einsatz für das freie Wort und damit für das hohe Gut der Freiheit, in Not gebracht hat. Manche mussten ihren Einsatz gar mit dem Leben bezahlen.
Georgij Gongadze war ein ukrainischer Fernsehjournalist. Er wurde am 16. September 2001 ermordet. Gongadze war ein frecher Hund, der im Fernsehen Politiker mit Gerüchten konfrontierte und sich deshalb viele Feinde machte. Der Fall ist auch 14 Jahre danach noch nicht geklärt, der Leichnam wurde ohne Haupt gefunden. Seither ist Gongadze in der Ukraine eine Symbolfigur – für vieles, was schief gelaufen ist bei der Transformation vom Kommunismus zur Demokratie.

Galina Timtschenko ist eine russische Journalistin. Sie war ein Jahrzehnt lang Chefredakteurin der erfolgreichsten russischen Internetz-Zeitung lenta.ru, einer Zeitung mit drei Millionen Nutzern. Galina wurde vor einem Jahr gefeuert, weil lenta.ru nicht nur kremlfreundlich über die Annektion der Krim berichtete.

Lenta.ru gehört einem der reichsten russischen Oligarchen, Aleksander Mamut. Der mochte eigentlich die Art und Weise, wie Galina seine Internetzeitung ausgerichtet hatte. Er konnte oder wollte sich aber keinen Ärger mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und dem Machtsystem des Kreml leisten.
Also musste Galina nach Riga in Lettland ziehen. Sie betreibt heute von dort eine neue Netzzeitung – Meduza. Sie kann ihren Beruf nur noch im Exil ausüben.

James Risen ist Journalist bei der New York Times, er ist Pulitzer-Preisträger, und er beobachtet seit vielen Jahren hat die amerikanischen Geheimdienste. James wollte aber seine Quellen schützen – an die möchten Behörden bekanntlich immer wieder rankommen.

Er wurde schließlich von den Diensten angeklagt. Die Staatsanwaltschaft wollte ihn dazu bewegen, nicht nur seine Quellen zu nennen, sondern auch in einem Prozess gegen einen ehemaligen Geheimdienstler auszusagen. Die Schlussfolgerung von James Risen ist eine bittere, ich zitiere: “Barack Obama ist der größte Feind der Pressefreiheit seiner Generation.”

Zurück zu Baku, hinein ins Kurdukhani-Gefängnis. Für Khadija, die wegen ihrer Berichterstattung zur Korruption in Aserbaidschan vor kurzem zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt wurde, haben wir Journalisten, Medien, NGOs wie wir im Center for European Press and Media Freedom, haben auch internationale Organisationen wie die OSZE europaweite Proteste organisiert.

In Fällen wie diesen bleibt uns nur der Protest. Sehr viel besser können wir es nicht.
Darf ich Sie fragen, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wie viele von Ihnen haben vom Fall der Khadija Ismayilova gehört?

Vielen Dank! Übrigens haben unsere Proteste noch nichts gebracht. Khadija ist immer noch im Knast und kämpft von dort weiter.

Sie ist übrigens in ihrer Heimat eine Berühmtheit – und im Schatten hinter ihr gibt es viele andere verfolgte Medienvertreter in Aserbeidschan. Alleine in den vergangenen Jahren sind dort fünf Journalisten ermordet worden. Alle fünf Fälle sind bis jetzt nicht aufgeklärt… Außerdem sitzt noch ein weiterer Journalist im Gefängnis – und das, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Urteil aus Baku für nichtig erklärt hat.

Viele würden sagen: Das ist ja zu erwarten in einem Land wie Aserbeidschan; die Demokratie dort hat sich noch nicht ordentlich entwickelt; es braucht noch Zeit; lasst uns Geduld haben!

Doch ich frage Sie: Ist das so einfach…Geduld zu haben, wenn die Pressefreiheit unter Druck gerät und Menschen ihrer Freiheit oder gar ihres Lebens beraubt werden?

Nehmen wir uns deshalb Deutschland vor: Selbst hierzulande haben wir alleine in diesem Jahr zwei gravierende Fälle erlebt, in denen die Pressefreiheit zu beugen versucht wurde.

Fall 1: Die Polizei nahm den arabischen Journalisten Ahmed Mansour vom Fernsehsender Al-Jazeera im Flughafen von Berlin fest. Schließlich lag aus Ägypten ein Internationaler Haftbefehl vor. Dieser Mansour sei ein Staatsfeind – behaupteten jedenfalls die „lupenreinen Demokraten“ in Kairo.

Fall 2: Fast zeitgleich leiteten die deutschen Behörden ein Ermittlungsverfahren wegen Landesverrats gegen die Netzzeitung netzpolitik.org auf Wunsch des Verfassungsschutzes ein.
Die Kollegen Markus Beckedahl und Andre Meister hatten vertrauliche Unterlagen vom Verfassungsschutz veröffentlicht – u.a. Finanzpläne und ähnliches.

In beiden Fällen reagierte die deutsche Öffentlichkeit empört – zum Glück mit Folgen: Mansour wurde nicht an die Ägypter ausgeliefert; und das Ermittlungsverfahren gegen netzpolitik.org wurde eingestellt. Beide Fälle gingen letztlich positiv aus. Und dennoch: Wir können auch hier lernen, wie bisweilen Behörden in einem konstitutionellen starken Rechtsstaat denken und handeln und bisweilen auch bereit sind, Recht zu beugen.

“Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.” Artikel 5, Grundgesetz.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
Das alles sollte uns nicht überraschen. Seit Jahren ist der Druck auf die Pressefreiheit und auf andere Grundrechte gewachsen. Die Demokratie hat zunehmend einen schweren Stand.

Der amerikanische “Wachhund” Freedom House beobachtet und analysiert seit mehr als 75 Jahren die Lage der Demokratie und Freiheit in aller Welt. Die aktuelle Analyse ist ernüchternd: Der Freiheitsindex ist in den vergangenen neun Jahren ununterbrochen zurückgegangen.

Auch Reporter ohne Grenzen kommen auf ein ähnliches Ergebnis. Ich zitiere: “Die Lage für Journalisten und unabhängige Medien in der Mehrzahl der Länder ist im vergangenen Jahr schlechter geworden.”

Zu den wichtigsten Gründen zählen Reporter ohne Grenzen die gezielte Unterdrückung oder Manipulation der Medien in Konfliktregionen wie der Ukraine, Syrien, dem Irak und den Palästinensergebieten.

Daneben missbrauchen viele Staaten den angeblich nötigen Schutz der nationalen Sicherheit, um Einschränkungen der Pressefreiheit durchzusetzen…Freiheit versus Sicherheit…

Steigendem Druck sind nicht nur klassische Zeitungen, sondern auch die neuen Medien ausgesetzt. Der türkische Präsident Erdogan hat zum Beispiel Twitter den Krieg erklärt. 87 Prozent der weltweiten Forderungen, Material von Twitter zu entfernen, kommt – Sie haben es sicher erraten – von türkischen Behörden.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
Im Kontext der Pressefreiheit unter Druck müssen wir auch die Schwierigkeiten der
Main Stream-Medien sehen. Die Auflagen und Anzeigeneinkommen gehen stetig zurück. Nur die wenigsten haben es geschafft, in Zeiten des digitalen Wandels ein belastbares Geschäftsmodell zu entwickeln, das den Fortbestand des Mediums – ob in gedruckter Form und/oder online – nachhaltig ermöglicht.

Gerade in Zeiten knappen Geldes und des täglichen Kampfes ums eigene Überleben erscheinen Recherchen und Reportagen zunehmend teuer, für manche gar unerschwinglich.

Viele Zeitungen und Zeitschriften können oder wollen es sich nicht mehr leisten, Geld in guten investigativen Journalismus zu stecken. Denn investigativer Journalismus ist zeitaufwendig, er bindet Ressourcen und ist ergebnisoffen, sprich: eine großartige Geschichte ist nicht zwingend garantiert.
Wenn man allerdings nicht mehr recherchieren mag oder kann, beraubt sich der Journalismus einer seiner Hauptfunktionen: nämlich verläßlicher „Wachhund“ einer Gesellschaft zu sein. Er wird zahm und zahnlos.
Der Qualitätsjournalismus heute steckt nicht nur aufgrund der Ressourcenknappheit in einer existentiellen Krise, weil er seine Rolle in der Welt des Internets noch nicht gefunden hat und seine wirtschaftliche Basis wegschmilzt.

Er hat auch Probleme, weil er in den vergangenen Jahren an Selbstverständnis und Selbstbewußtsein eingebüßt hat.

Dazu ein Beispiel: In Dänemark, meinem Heimatland, hatten wir vor einer Woche viele Veranstaltungen, Sendungen und Berichte zu der “Karikaturen-Krise” vor 10 Jahren. Damals veröffentlichte die Zeitung Jyllands Posten die Mohammed-Karikaturen. Sie stürzte damit das Land in die schwerste internationale Krise seit 1945: Botschaften wurden niedergebrannt und die dänische Nationalfahne zerrissen.
Rund 140 Menschen wurden Opfer der Gewalt gegen Dänemark. Diesmal haben wir diskutiert und geschrieben, ohne die Karikaturen zu veröffentlichen. Jyllands Posten schreibt ehrlicherweise in einem Leitartikel, dass man auf eine Veröffentlichung verzichtet habe, aus Sorge um die Sicherheit.

Jyllands Posten fürchtet sich vor Konsequenzen – solche wie bei Charlie Hebdo. Die bittere Wahrheit: Die Antagonisten haben gewonnen. Wir üben Selbst-Zensur aus.
Was ist zu tun? Was können WIR tun?

  • Gehen wir zu Wahlveranstaltungen und fragen Politiker, die in unserem Wahlkreis kandidieren, was sie für die Pressefreiheit zu tun bereit sind!
  • Schreiben wir Leserbriefe! Organisieren wir Foren in sozialen Medien!
  • Diskutieren wir diese Themen mit Freunden und Kolleginnen und Kollegen! Und zwar am liebsten kontrovers!
  • Unterstützen wir Vereine und Organisationen, die – wie das neue European Center for Press and Media Freedom – diese Entwicklungen analysieren und ihr entgegentreten.

Im European Center for Press and Media Freedom werden wir so gut wir können einzelnen Journalisten helfen. Wir richten eine Art Alarmzentrale ein, damit wir im Gefahrenfall schnell reagieren können.
Wir werden Regierungen, Parlamente und internationale Organisationen ansprechen und Eingriffe in die Pressefreiheit entlarven als das, was sie sind: Angriffe auf die Demokratie.

Wir werden in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen Analysen und Forschung initiieren, damit Experten, Praktiker und Organisationen am gleichen Strang ziehen.

Wir werden neue Bündnisse grenzüberschreitend schließen und uns an die Öffentlichkeit wenden, damit Sie, meine Damen und Herren, wissen, was los ist.

Schließen wir noch einmal die Augen und zoomen aus dem Weltall auf Baku, die Stadt am Kaspischen Meer. Dort lebt nicht nur Khadija Ismayilova, sondern auch Mehriban Alijewa. Sie ist nicht nur die Frau des Präsidenten, sondern auch noch „Botschafterin des guten Willens“ für die Unesco – weil sie sich den Idealen dieser Organisation verschrieben habe, wie es heißt. Die Unesco ist als UN-Organisation zuständig unter anderem für Rede-und Pressefreiheit. Wie heißt es auf der Homepage der Unesco? “Der Schutz der Meinungsfreiheit ist eine essentielle Bedingung für Demokratie, Entwicklung und menschliche Würde.”

Haben Sie auch ein Problem mit der Vorstellung, dass die First Lady eines Landes, in dem Journalisten eingesperrt und ermordet werden, den guten Willen der Unesco in die Welt trägt?

Ich kann Ihnen versprechen: Wir werden auch in diesem Fall nicht locker lassen und uns an die Unesco, an die nationalen Unesco-Komitees und an die europäischen Regierungen wenden, die Mitverantwortung tragen für solch eine Farce.

Und wir werden auch nicht locker lassen,

  • bis Khadija Ismayilova wieder in Freiheit auf das Kaspische Meer blicken kann;
  • Jafar Panahis Film „Taxi Teheran“ auch dort gezeigt werden darf, wo er spielt: in Teheran;
  • die Morde an Georgij Gongadze und Anna Politkowskja aufgeklärt sind und ihre Angehörigen wissen, was wirklich geschah;
  • bis Nedim Sener frei und ohne eingeschüchtert zu werden publizieren darf;
  • Journalisten wie James Risen nicht mehr Staatsfeinde Nummer 1 sind;
  • Und bis Ahmed Mansour, Markus Beckedahl und Andre Meister von deutschen Behörden zufrieden gelassen werden.

Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um den Druck auf die Pressefreiheit zu reduzieren – egal wo auf der Welt. Wir lassen nicht locker!

Vielen Dank!

Dr. Thomas Bellut

Director General of Second German Television ZDF.

This speech is only available in German.

Es gilt das gesprochene Wort.

Leipzig, 8.10.2014
Zu “25 Jahren Mauerfall” und zur Freiheit hier in Leipzig am 8. Oktober 2014 sprechen zu dürfen, ist eine große Ehre und ehrliche Freude zugleich. Sprechen wir also über die Freiheit, besonders die Freiheit der Medien, und über die Zukunft von beiden. Ich tue es aus der Praxis eines elektroni­schen Mediums her­aus, will aber zuerst einen anderen spre­chen lassen, da­mit wir die Atmo­sphä­rik der Wende etwas gegenwärtiger haben. Un­ser da­maliger DDR-Kor­re­spondent Werner Brüssau schrieb im ZDF-Jahr­buch von 1989 über das, was auf den Tag genau vor 25 Jahren hier gesche­hen ist:

“Mit den großen Protestdemonstrationen am 7., 8. und 9. Oktober in Berlin, Leipzig und Dresden wurde die Revolution eingeleitet. Noch waren wir Jour­nalisten unter der Knute des Staatssicherheitsdienstes. Besonders die ak­kreditierten Fernsehteams wurden verfolgt. Nur bruchstückhaft konnten wir von den Ereignissen berichten. Kameras wurden zerstört, gefilmtes Ma­terial beschlagnahmt. Nach Leipzig wurden wir überhaupt nicht mehr hin­eingelas­sen. Wo sich der größte Widerstand gegen den stalinistisch-soziali­stischen Staat in gewaltigen Demonstrationen vieler Hunderttausender reg­te, in der ‘Heldenstadt Leipzig’, gelang es nur amerikanischen und briti­schen Kolle­gen, mit versteckter Kamera Bilder herauszuschmuggeln. Dass es in Leipzig nicht zu dem von Honecker und Mielke angeordneten Schieß­befehl kam, der ein Blutbad angerichtet hätte, bedeutete das endgültige ‘Aus’ für die alte Ordnung.”

Das Zitat erinnert, an welch seidenem Faden all das hing, was manch einem längst wie selbstverständlich erscheint: dass wir uns heute hier an glei­cher Stelle treffen können und offen über Freiheit sprechen dürfen: über die damalige Rolle der Me­dien auf dem Weg in die Freiheit und über unsere Rolle heute, wie wir das hohe Gut der Freiheit auch künftig bewahren, gera­de auch mit Hilfe der Medien.

“Freiheit” ist ein offener Begriff:

Könnte man “Freiheit” begrifflich genau definieren, würde man sie be­reits ein­schränken. Philosophisch verstanden, entsteht sie erst im kon­kre­­ten Vollzug unseres Denkens und Hand­elns und definiert sich dabei quasi nur oder erst selbst. Greift man vorher zu, greift man vorbei. Das klingt nach rhe­tori­scher Spitzfindigkeit, gehört aber zu einem offenen Begriff. Das soll uns nicht irritieren: Selbst der “Rundfunk” ist ja juristisch ein “dynami­scher” Begriff, der sich im Zuge seiner rasanten technischen Verände­run­gen ständig mitverändert.

Um dennoch wenigstens eine Annäherung an die “Freiheit” zu finden, er­innere ich mal an das, was sie an der Wiege der Demokratie, sprich: in der grie­chi­schen Polis, bedeutet hatte: Der politische Freiheits­begriff meint dort keine Anarchie, keine grenzenlose Möglichkeit, erst recht kei­ne Beliebig­keit, sondern die Gleichheit der Men­schen vor dem Ge­setz. Frei­heit ist also kein persönlicher Freifahrschein, son­dern ein öf­fent­li­ches Gut, das sich in Gemeinsamkeit wechselseitig auslotet. Der Ge­­gen­­satz zu einem freien Menschen war daher nicht ein Sklave, son­dern ein Ungleicher, jemand, der nicht aus der Polis stammt, sondern aus einer nicht-demo­kratischen Region, also ein Nicht-Grieche. So ist zu verstehen, dass etwa die Zeit-Journalistin Marion Gräfin Dön­hoff bei ihren einstigen Reise-Reportagen über das “andere Deutsch­land” von einem fer­nen, fremden, entfremdeten, unzugänglichen, unbe­kann­­ten Land ge­spro­chen hatte. Eine nähere Kenntnis war denn auch schwierig: Die feste Hand des Sicherheitsdienstes hatte für die Journalisten im Westen nur ein sehr eingeschränktes, sagen wir ruhig: manipu­liertes Bild der DDR zugelassen.

Es gibt keine politische Freiheit ohne die Freiheit der Medien:

Die Ostbürger waren umgekehrt durch die West­medien anders infor­miert als durch die eigenen Medien. Die Bürger der DDR wussten insbesondere durch das Fernsehen, dass es jene Frei­heit wirklich gibt, für die sie später auf die Stra­ße gingen. Die Fern­seh­bilder waren eine Realität. Aus den Bildern des Westens wurde dann auch im Osten Wirk­lichkeit. Dabei geht es aber nicht nur um die Bilder von ausrückenden Trabi-Karawanen, die dann realiter weitere Karawa­nen generiert ha­ben. Vielmehr handelt es sich um einen medialen Ge­sell­schaftsprozess über Jahrzehnte hinweg. Dabei sind nicht nur Tag für Tag die neuesten Nachrichten von ARD und ZDF heimlich und unerlaubt in die östlichen Wohnzimmer buchstäblich “rübergekommen”; auch ein an­de­res Menschen- und Gesellschaftsbild, ein anderes Welt- und Le­bens­verständnis ist all­mäh­lich immer tiefer eingesickert ins gesellschafts­politische Grundwas­ser. Selten zuvor war die Wirk­kraft und Wirkmacht der Medien so konkret greifbar wie hier. Und sie hat den Mächtigen ge­zeigt: Kein noch so autoritäres System kann die Frei­­heit und Wahr­heit dauerhaft unterdrücken. Freie Medien über­winden praktisch jede Grenze.

Die Freiheit der Medien ist ein demokrati­sches Grundrecht:

Die westlichen Kommunikationsfreiheiten – als da sind: Rundfunkfrei­heit, Pressefreiheit, In­for­­mationsfreiheit, Meinungsfreiheit und Meinungs­äußerungsfreiheit – waren und sind eine Lehre und Folge aus dem gleich­geschalteten Reichsrundfunk des National­sozialismus. Als demo­kratisches Grundrecht ist die Kommunikations­frei­heit bewusst ein libera­les Abwehrrecht zum Schutz gegen einen Staats­funk beziehungsweise gegen staatliche Eingriffe in die Rundfunkarbeit. So kam es nach dem Kriege in der jungen Bundes­republik zum Modell eines öffentlich-recht­lichen Rund­funks als elektronisches Ge­sellschaftsforum mit aus­­drück­li­cher Staatsferne. Er stand im publizistischen Wettbewerb mit einer freien Presse, wie er dann später, durch die neuen techni­schen Möglichkeiten einer grö­ßeren Ka­nal­­fülle, im  Dualen System der elektronischen Medien auch in den zu­sätz­lichen Wettbewerb mit kommerziellen Programm­an­bie­tern ein­getre­ten ist.

Entscheidend ist, dass für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk bei allen medialen Verän­derungen dennoch Bestand und Entwicklung im Sinne des Grundrechtes weiter garantiert bleiben. Dass dies kein medienpoliti­scher Selbstläufer ist, sondern von Zeit zu Zeit nachjustiert wer­den muss, hat das jüngste Rundfunkurteil des Bundesverfas­sungs­gerichtes zur Be­set­zung der ZDF-Gremien gezeigt: Je mehr amtierende Politiker in einem Aufsichtsgremium, desto dring­licher stellt sich die Frage nach der tat­säch­lichen Staatsferne. Staatsferne musste auch in den westdeutschen Medien vor der Wende natürlich täglich erstritten und durchgesetzt werden, die gesellschaftliche Macht bevorzugte immer das positive, öffentliche Bild mehr als die kritische Betrachtung.

Aber: Der An­ruf von Christian Wulff bei der Bild-Zeitung ist keine wirkliche Frage der Staatsferne oder -nähe: Hier hatte es sich nur um einen persön­li­chen Versuch der Einflussnahme gehandelt, ohne jede struk­turelle, juris­tische Handhabe. Anders gesagt: Weder als Privatper­son noch als Bun­des­präsident hätte Christian Wulff irgendeinen Chef­redak­teur zu irgend­et­was zwingen können. Der Grad der Medienfreiheit hängt also immer auch davon ab, wieviel Unabhängigkeit sich der Jour­nalismus im vorge­ge­benen Rahmen selbst be­wahrt.

Die Rundfunk-Freiheit ist eine dienende Frei­heit:

Die Medienpolitik gibt den Rahmen vor, innerhalb dessen sich die Pro­gramm­­anbieter autonom und frei bewegen können. Ihre Freiheit ist frei­lich kei­neswegs grenzenlos. Grenzen treten bereits dort auf, wo allge­meine Ein­griffsgesetze zum Schutz anderer Grundrechte Anwendung finden, zum Beispiel beim Ju­gend­schutz oder Persönlichkeitsrecht. Und Gren­­zen, oder sagen wir besser: Bindungen, sind natür­lich von vornher­ein auch dadurch gegeben, dass die öffentlich-rechtlichen Sender einen Pro­grammauftrag haben: Ihre Rundfunkfreiheit ist als “dienende Frei­heit” ausdrücklich gebunden an den Ge­sell­schaftsauftrag einer media­len Grundversorgung mit In­formation, Bildung, Unterhaltung und Kultur.

In­so­fern gibt es keine Medienfreiheit ohne gesellschaftliche Bindung, und das heißt: ohne publizistische Ver­ant­wortung. Aus ihr heraus bieten und bilden die Öffentlich-Rechtlichen ein Mei­nungsforum für das Gesell­schafts­­­ge­spräch, oh­ne das eine offene de­mo­kratische Gesellschaft, zu­mal eine Me­diendemo­kratie, nicht funktio­nie­ren kann. Das klingt – zuge­geben – ein wenig staats-tragend, trägt allerdings auch den Staat, jeden­falls die Gesellschaft, wie wir seit dem Mauerfall wissen: Auf ein Ge­samt­bild der deutschen Wirk­lich­keit ausge­richtet und die Wieder­ver­eini­gung als Fernziel im Auge, hat­ten ARD und ZDF über viele Jahre und Jahr­zehnte hinweg sicher keinen geringen Anteil an der Fried­lichen Revolu­tion.

Ohne Selbstüberschätzung und Selbstgefälligkeit kann man sagen: Die Wiedervereinigung war auch ein historischer Programmerfolg des öffent­lich-rechtlichen Fernsehens. Er ist nicht zu mes­sen an Quote und Attrak­ti­vität des Programms, sondern an seiner gesell­schaft­­lichen Re­le­vanz. Gewiss können auch kom­mer­zielle Programme publizistisch rele­vant sein, doch sie können es nicht garantieren, da sie sich unter dem Strich ‘rech­nen’ müssen. Hier aber stellt sich die Frage nach der Freiheit noch ein­mal von einer anderen Seite: Kommer­zi­elle Sender haben zwar weit grö­ße­re Programmfreiheiten dadurch, dass die Grundversorgung öf­fent­lich-recht­lich abgedeckt ist, doch ihr wirt­schaft­licher Druck zur Ge­winn­maxi­mie­rung kann unter Umständen mehr Abhängigkeit bedeuten, als sie von der Po­litik ausgehen könnte.

Im Übrigen wäre es, alleine vom Ver­kauf der Werbezei­ten her, praktisch gar nicht denk­bar gewesen, dass RTL oder SAT.1 im Zuge der Wieder­vereinigung seiner­zeit wie das ZDF an die 50 Sondersendungen ge­schaltet hätten. Und so heißt “Medien­frei­heit” eben auch: größtmögliche journalistische Unab­hängigkeit auch von anderen als politischen Fakto­ren, seien sie wirtschaftlich, technisch, kul­tu­rell, sozial oder am Ende dann auch per­sön­lich und charak­terlich.

Der medienpolitische Freiheits­rahmen ist inhaltlich mit Meinungs­viel­falt zu füllen:

Die formal zunächst leere Freiheit braucht Inhalt: In ihrer Pro­gramm­auto­no­mie haben die Sender praktisch die Definitionshoheit, wie sie ihre Pro­­gramm­­­freiheit konkret umsetzen. Das Programm ist, so ge­sehen, die dy­namische Definition des Frei­heitsbegriffes. Seine Ausgestaltung orien­tiert sich an der Maßgabe der Meinungs­vielfalt im Dienste und Sinne einer freien Meinungs­bil­dung. Gewiss kann dabei eine Sache auch ein­mal etwas einseitiger beleuchtet wer­den, aber unter dem Strich sollten sich Licht und Schatten dann doch aus­glei­chen – wie einstmals bei “Kenn­zeichen D” und dem “ZDF-Magazin” mit ihren unterschiedlichen parteipolitischen Färbungen. Unter diesem berühmten Strich geht es ja auch nicht pri­mär um Parteien, also um “par­tes”, sondern buchstäblich “um’s Ganze”, Gemeinsame. Und es geht demnach auch nicht alleine um eine per­sönliche, individu­elle, sondern vor allem um die öffent­liche Mei­nungs­bildung, und bei ihr nicht nur um ihre Bildung, sondern auch um den Abbau fal­scher Meinungen, unguter Stimmungen oder schäd­licher Vorurteile, also – in der Sprache unseres heutigen Anlasses – um das Abtragen von Mauern oder Mauerresten.

Wie sich aber Meinungen auf allen Ebenen der Lebenswirklichkeit bilden können, müssen auch in der Programm­viel­falt alle Register, alle vertret­baren Varianten an For­maten gezogen wer­den, von den “heute”-Nach­richten bis zur “heute-show”, nicht zu vergessen auch all die bewegen­den Fernsehfilme über deutsch-deutsche Schicksale als eine andere, emo­tio­na­lere Form einer auch psychologischen Meinungs­bil­dung, die oft mehr be­wegt als alle schönen Worte.

Freie Medien brauchen freie Journalisten als Meinungsbildner:

Freiheit kann man nicht vermitteln, ohne selbst frei zu sein. Eine größt­mögliche journalisti­sche Unabhängigkeit des Denkens und Handelns ist unverzichtbar. Dazu gehört auch eine größtmögliche Bar­riere­frei­heit im Zugang zu Informationen. Bei einem Anlass wie heute, an einem Tag wie diesem zitiere ich noch ein­mal Wer­ner Brüssau auf seiner damaligen Su­che nach Quellen der Wahr­heit in der DDR: “Es war schwer, Menschen für ein politisches Gespräch zu gewin­nen. Und die führenden Kommunis­ten hiel­ten sich von uns fern. Ich hatte im­mer den Eindruck, dass das Jour­na­listenabkommen im Grund­lagen­­ver­trag für Ost-Berlin die dickste Kröte war, die sie hatten schlucken müs­sen. Vielen ‘Edel-Kom­mu­nisten’ waren wir regelrecht verhasst. Uns war je­der di­rek­te Kontakt zu gesell­schaft­lichen und kommunistischen Stel­len im Land un­tersagt. Ver­ließen wir Ost-Berlin, so hatten wir uns 24 Stun­den vorher ab­zumelden. Nur die Presse­referenten der Ministerien waren zu Aus­künf­ten berech­tigt, und die waren – mit Ausnahmen – dürf­tig ge­nug.”

Wegen der “Kröte” also die eingangs zitierte “Knute”. Und man sieht, wie sehr Journalisten auch diktatorische Betonköpfe ärgern, beschäftigen und am Ende vielleicht sogar ihrerseits beeinflussen können. In dieser journalistisch-investigativen Wirkkraft sind Medien kein un­terhaltsamer Luxus, sondern konstitutiv für eine transparente De­mokra­tie, die ihrem Namen auch gerecht wird. Entsprechend groß ist ihre publi­zis­ti­sche Ver­ant­wortung im Dienst an der Sache, der “öf­fent­li­chen Sa­che”, der “res publica”. Von daher erübrigt sich der Hinweis, dass die heute grassie­renden Per­so­­na­lisierungen im Kampagnen-Journalismus und in der Skandal-Be­richt­erstattung von der eigentlichen Sache oftmals ablen­ken. Wenn es einer öffent­lichen Empörungs­maschinerie mit all ihren moralisierenden Hypes und Shitstorms gelingt, selbst den ersten Bürger eines Landes zu Fall zu brin­gen, dann wird die – etwas problematische – These von den Medien als der “vierten Gewalt” (ich halte davon wenig) im Staate buchstäblich wahr.

Weit positiver wirkt die These allerdings, wenn man die Medienmacht als eine Art außerparlamentarischer Opposition mit kritischer Kontrolle des politischen Geschehens versteht; wenn Medien im Kampf gegen ein tota­litäres Regime eine Gegenöffent­lich­keit formieren; wenn Journalisten nicht nur als freiheitliche Vordenker wirken, sondern auch offen und öf­fent­lich als Vor­reiter agieren – wie unsere Preis­trä­ger heute als Mitstrei­ter der Fried­­lichen Revolution mit ihrem hohen persönlichen Einsatz für die Pressefreiheit in der damaligen DDR.

Journalisten werden notfalls zu Freiheitskämpfern:

Auch nach dem Mauerfall ist die Freiheit kein feststehendes, dauerhaftes Gut, sondern jederzeit und überall gefährdet, auch bei uns, aber erst recht in den totalitären Staatsfor­men unserer Tage. Hier kann unsere afghanische Preisträgerin Farida Nekzad mit ihrem länderübergreifenden Kampf um Presse­frei­heit und Frauenrechte für all die anderen Regionen die­ser Welt stehen, an denen niemand mit sei­ner Meinung auf die Straße zu gehen wagt.

Die aktuellen Missstände stimmen umso nachdenklicher, als die Mei­nungs­freiheit heute gerade auch in jener geopolitischen Region be­droht ist, die beim Mauerfall vor einem Vierteljahrhundert so einmalig günstig war. In Russland hat unter Putin eine Verschärfung des Demon­strations­rechtes, eine Reform des Parteiengesetzes und des Wahlrechts als Vor­bereitung zur Ein­schrän­kung der Rundfunk- und Meinungs­frei­heit statt­gefunden.

In China werden Journalisten bei Haftstrafe gewarnt, keine uner­wünsch­ten Ge­danken und böswilli­gen Gerüchte gegen das sozialistische Re­gime in die Welt zu setzen. Die Warnung richtet sich, in Verbindung mit einer großen “Firewall”, ins­besondere gegen Blogger im Netz, wo neben den klas­si­schen Me­dien ein neues Kampffeld um Meinungsfreiheit ent­­stan­den ist.

Im Irak wurden wir Zeugen, fast sogar Augenzeugen, von Hinrich­tun­gen internationaler Jour­nalisten durch die sunnitische Terrormiliz Islami­scher Staat. Demonstrativer kann man der Welt­öffentlichkeit nicht die eminente Schlüsselfunktion von Journa­lis­ten als den großen Multiplika­to­ren des globalen Zeitalters vor Augen führen. Sie bringen – fast – alles ans viel be­­schwo­rene “Licht der Öffentlichkeit”. Den Rest schafft das Netz, wo das Licht niemals ausgeht. Heikel wird es allerdings bei der Frage, ob und inwie­weit und unter welchen Umständen man die propa­gandisti­schen Bilder der Hinrichtung überhaupt der Welt­öffentlichkeit zei­gen darf: ob man sich damit nicht selbst zum Hand­langer der Terroristen macht. Damit wären selbst scheinbar ‘freie’ Medien dann doch instru­mentalisiert, fremd bestimmt, also ohne Freiheit.

Das sensible Beispiel lehrt, wie dialektisch die Freiheit der Medien ge­rade im Front-Journalis­mus umbrechen kann und wie freie Journalisten plötz­lich dann doch unfrei werden. Und das Beispiel mahnt weiter, ob nicht nur die Freiheit allgemein, sondern auch die spezifische Presse­frei­heit am Hindukusch verteidigt werden muss: Auch dort müsste die Wahr­heit zur Sprache kom­men, und sei es durch ausländische Jour­na­lis­ten, quasi durch eine im­portierte Medienfreiheit – allerdings möglichst nicht unter Lebensgefahr, bei der sich die Frage der journalistischen Verant­wor­tung noch einmal ganz neu stellt.

Freie Medien brauchen auch freie Nutzer:

Alle Freiheitskämpfer kämpfen nur gegen Windmühlen, wenn das Volk nicht mitzieht: So werden die heutigen Preisträger ja stell­vertretend für alle Mitdemonstranten der Friedlichen Revolution ausgezeichnet. Der beste Jour­nalist nutzt nichts, wenn seine Botschaft nicht ankommt, wenn es keine freien Bürger gibt, die sich von ihm bewegen lassen. Insofern gilt: Je mehr Vielfalt im Angebot der Meinungen, desto größer die Chan­cen, auch bei den Zuschauern Interesse zu wecken. Das demokra­tische Pro­gramm­ziel sind keine zurückgelehnten, eingelullten Zuschauer, son­dern aufgeklärte, sprich: selbst denkende, selbst­ handelnde, en­ga­gier­­te, muti­ge Bürger, die notfalls vielleicht auch einmal gegen den Strom schwim­men. Im Extremfall führt dies auf die Straße. Me­dien­­demokratie be­deu­tet also nicht, dass alleine die Medien han­deln, sondern dass sich in einem lebendigen Wechsel­ver­hältnis alle Bür­ger am gesell­schaft­lichen Leben beteili­gen: “Wir sind ein Volk!”

Persönliche Meinungsfreiheit darf der öffentlichen nicht schaden:

Unsere Mediendemokratie hat sich im Zuge der Digitalen Revolution mas­siv gewandelt: Zum klassischen Rundfunk ist längst das Internet da­zugekommen. Die Konvergenz zwischen Schirm und Netz ist voll im Gange. Durch weitere Zu­nahme der Internet-Nutzung verändert sich da­her auch der “dynami­sche” Rund­funk, verändert sich aber auch unsere Mediengesellschaft. Ent­schei­dend da­bei ist: Die traditionelle, professio­nel­le Massenkommuni­ka­tion und die oftmals laienhaft spon­tane Indivi­dual­­kommunikation gehen teilweise unter­schieds­los durcheinander, stehen praktisch gleich­wertig nebeneinander.

All das geschieht nicht unbedingt zum Vorteil des Journalismus: Das Netz beschleunigt, erweitert oder verkürzt die Möglich­kei­ten der Re­cher­che und Kontrolle und setzt damit alle Wahrheitssucher unter vehe­men­ten Aktualitätsdruck. Neben solche Fehlerquellen rückt ein immer schwie­ri­geres Quellenstudium: Wer hat welche Nachricht von wem? Und wie ist die Verbreitung von persönlichen, spontanen, emotio­nalen Mei­nun­gen auf der einen Seite ge­genüber substantiellen, fundierten, argumentativen Meinun­gen auf der anderen Seite vernünftig auseinan­derzuhalten und sinnvoll zu gewichten? Wann verliert wer dabei den Überblick? Sind Über­­blick und Durchblick überhaupt noch gefragt? Oder ist es inzwi­schen nicht manchen Nutzern erwünschter, mit Nachrichten­leuten oder mit den handelnden Personen selbst – sogar mit dem Papst – persönlich zu twittern, statt sich eine nachrichtliche ‘Verkündigung’ an­zuhören?

Ohne Zweifel wächst mit sol­cher neuen, unmittelbaren Meinungsfreiheit auch die Verantwortung der offiziellen Medi­en bzw. Journalisten als öf­fent­liche Filter und Multiplikatoren im Dienste der eigentlichen Nach­richt, eben der gemeinsamen öffent­lichen Sache. Wo aber das Sach­ar­gu­ment bei “Social Media” ersetzt wird durch ein allzu persönliches, will­kürliches “Gefällt mir. Ge­fällt mir nicht.”, rückt das Ich vor das Wir. Das “Wir sind das Volk” rückt in den Hintergrund.

Die Zukunft der Freiheit ist keineswegs selbstverständlich:

Wir sind an einem Umschlagpunkt angekommen, an dem mit “Social Media” die grenzen­lose Freiheit der Meinungen ihre Bindung verlieren kann, an dem auch der Ruf nach mehr Kontrolle wieder lauter wird. Da­gegen stehen dann natürlich wieder Ängste vor zu viel Kontrolle, zu viel Vernetzung: Im Netz bleibt alles hän­­­gen, jeder hinter­lässt jede Menge Spuren, gewollt oder ungewollt. Per­­so­nenprofile, Käu­ferprofile, Gesell­schafts­profile über das “Glo­bal Po­si­tioning Sy­stem” GPS oder etwa über “Payback” und andere Da­ten­­speicher­syste­me wuchern auf allen operati­ven Ebenen. Praktisch jedes Handy ver­rät unsere gan­zen Bewegungs­abläufe und Verhal­tens­muster. Und wenn es abgehört wird, verrät es so­gar noch mehr. Keine Angst, ich leide nicht unter Verfolgungswahn und fürchte mich auch nicht vor “Big Brother”: Ich möchte nur daran erinnern, wel­­che Unfreiheiten oder tech­nischen Spit­zel­systeme wir gläser­nen, “transparenten” Menschen von heute bereits freiwil­lig akzeptieren und welche wir un­freiwillig dennoch in Kauf nehmen.

Noch einen Schritt weiter dürfen wir uns auch an Frank Schirrmacher er­innern, der seinem Buch “Pay­back” die Unterzeile gege­ben hatte: “Wa­rum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kon­trolle über unser Den­ken zurückgewinnen.” Ich kann dieses diffizile intel­lek­tuelle Problem, wie die Technik zuneh­mend den Menschen beherrscht, wie sich auch unser eige­nes Denken im Umgang mit technischer Intelligenz verän­dert, hier jetzt nicht weiter aus­führen, es ist auch nicht unser Thema; doch es zeigt, wie wenig wir uns auch hier und heute und in Zukunft unserer Frei­heit – und gerade auch unserer ganz persönlichen Freiheit – sicher sein kön­nen.

Bei allen Netzdaten geht es weniger um unsere Vergangenheit als aus­drücklich um un­sere Zukunft – und die ist ja heute auch unser Thema. Alles, was über uns überall zigfach angesammelt wird, dient angeblich dem Ziel, mit dem Computer als ‘Ora­kel­ma­schi­ne’ unsere Zukunft irgend­wie kon­kreter vorherzu­sa­gen und ge­sell­schaft­liche Entwicklungen oder volks­wirt­schaft­lichen Wettbewerb gewinnbringend zu steu­ern. Doch jede Steuerung kostet Frei­heit. Fast ein wenig be­ru­­higend dabei ist: So herausragende histo­rische Ereignisse wie den Mauerfall, den 11. Sep­tem­ber oder die Finanzkrise hat uns kein techni­sches Gerät und auch kein menschliches Gehirn vor­hersagen können.

Fazit: Unser Gesellschaftsauftrag geht weiter:

Nehmen wir das Mauerfall-Jubiläum nicht als Anlass, uns zufrieden zurück­zulehnen, sondern als Impuls zu noch mehr Engagement und Wachsam­keit. Die Mauer ist zwar gefallen, aber andere Mauern stehen noch, auch Mauerreste in jedem von uns: ungeprüfte Meinungen, Wertungen, Urteile, Vor­­urteile, Ressentiments. Und auf der anderen Seite steht der Frie­den nie mauer­fest, wie die jüngsten Entwicklungen in Osteuropa zeigen. So wäre in der heutigen per­so­nal­politischen Konstellation die deutsche Wiedervereini­gung schwer denkbar ge­wesen. Umso bedauerlicher, als der russische Haupt­akteur ja so viele Jahre hier in Sachsen gewirkt hat.

Es bleiben Fragen, und es kommen einem immer wieder neue Fragen: Wie einmalig ist Geschichte und wie sehr, wie schnell verändert sie sich? Wie kann es etwa sein – und das meine ich keineswegs vorwurfsvoll – dass hier in Sachsen bei der jüngsten Landtags­wahl die Wahl­beteiligung von 49,2 Prozent sogar den bis­heri­gen Negativrekord noch ge­brochen hat? Wie kann es sein, dass sie in allen östlichen Bundeslän­dern niedriger liegt als in den westlichen? Was ist aus den Demonstranten von da­mals heute ge­worden? Interessieren sich die Menschen in ganz Deutschland noch ausreichend für ihr Staats­wesen?

Als Verantwortlicher für einen nationalen Fernsehsender muss ich mir natürlich auch selbst kritische Fragen stellen: Wird das Bild über politische Arbeit durchgehend negativ eingefärbt, sind wir mit Meinungen zu schnell öffentlich, bevor wir der Wahrheit auch nur nahe gekommen sind? Ist die mediale Welt zu sehr auf Personen, auf Köpfe reduziert, weil die Wirklichkeit erschreckend komplex gebaut ist?

Zum Freiheitsbegriff gehört auch die Verantwortung derjenigen, die das Privileg der Freiheit in ihrer Arbeit übergeben bekommen haben. Aber das wäre ein nächster Vortrag. Nicht heute Abend.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Hans-Ulrich Jörges

Co-editor of Stern magazine and Editor for Special Affairs of Gruner + Jahr.

S. E. Maurice Gourdault-Montagne

Ambassador of the French Republic in Germany.

This speech is only available in German.

Es gilt das gesprochene Wort.

Leipzig, 8.10.2012.
Es ist mir eine hohe Ehre und eine große Freude, als Vertreter Frankreichs und als erster ausländischer Gastredner bei dieser Veranstaltung anlässlich der Verleihung des “Preises für Freiheit und Zukunft der Medien” 2012 das Wort ergreifen zu dürfen. Die Medien- und Pressefreiheit ist ja ein Prinzip, das wir, Franzosen und Deutsche, als einen Kardinalwert der freiheitlich-demokratischen Grundordnung betrachten. Dementsprechend neigen wir oft dazu, die Pressefreiheit für ein ein für alle Mal errungenes Grundrecht zu halten. So ist es leider nicht. Diese Grundfreiheiten haben auch eine Geschichte, die in jedem Land anders aussieht und großen Einfluss hat auf das, was man unter einem Begriff versteht, etwa dem Begriff der Pressefreiheit.

Ein Punkt, den man hier gleich erwähnen sollte, ist, dass wir Franzosen stolz darauf sind, das Stammland der ersten Zeitung im modernen Sinne des Wortes zu sein, der Gazette, die im 17. Jahrhundert, 1631, von Theophraste Renaudot gegründet wurde. Auch in Deutschland und vor allem in Leipzig hat der Begriff Pressefreiheit eine ganz besondere Resonanz. Denn genau in den Jahren, als Renaudot die Gazette gründete, wurde die Leipziger Buchmesse zur größten Messe ihrer Art im deutschsprachigen Raum; sie bekräftigte damit den Status dieser Stadt als Ort der Meinungs- und Ausdrucksfreiheit, als Ort des Austauschs und der Kultur. Ich möchte fast sagen, Leipzig war als Stadt der ersten Tageszeitung überhaupt geradezu prädestiniert, die Fahne der Pressefreiheit immer hochzuhalten. Damals gab es zwar keine Zeitungen, aber es gab diese Tradition der barocken Flugblätter, die einen wesentlichen Beitrag zur Entstehung der öffentlichen Meinung in Deutschland leisteten. Und Leipzig stand im Mittelpunkt dieses Prozesses. Es fällt nicht schwer, eine Brücke zu schlagen von den barocken Ursprüngen dieser freiheitlichen Tradition bis hin zur “Friedlichen Revolution” von 1989, die ebenfalls Meinungs- und Ausdrucksfreiheit verlangte. Diese Tradition war immer eine Tradition des Kampfes für mehr Freiheit: Hier mehr als anderswo weiß man, dass die Pressefreiheit leider nie ein für alle mal errungen ist.

Im Folgenden möchte ich eine Standortbestimmung versuchen: Ich glaube, wir können eine spezifische deutsch-französische Einstellung zur Pressefreiheit finden, die sich aus der engen Verflechtung unserer Nationalgeschichten ergibt. Wie Sie wissen, befinden wir uns in den ersten Wochen des Deutsch-Französischen Jahres anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Elysée-Vertrages, der unsere Aussöhnung besiegelt hat. Diese Veranstaltungsreihe dreht sich um die Rückbesinnung auf die Anfänge unserer Partnerschaft in den Jahren 1962 und 1963. Wir wollen uns klare Gedanken über unsere gemeinsamen Verpflichtungen für die Zukunft machen. Wenn es ein gemeinsames deutsch-französisches Verständnis der Pressefreiheit gibt, dann ist es auch eine Verpflichtung für uns, geschlossen für die Pressefreiheit in der Welt einzutreten.

“La libre communication des pensées et des opinions est un des droits les plus précieux de l’homme : tout citoyen peut donc parler, écrire, imprimer librement, sauf à répondre de l’abus de cette liberté, dans les cas déterminés par la loi”: “Die freie Äußerung von Gedanken und Meinungen ist eines der kostbarsten Menschenrechte: Jeder Bürger kann also frei reden, schreiben und drucken, vorbehaltlich seiner Verantwortlichkeit für den Missbrauch dieser Freiheit in den durch das Gesetz bestimmten Fällen.” So lautet Artikel 11 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, des Sockels der französischen freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Dem waren heftige Auseinandersetzungen zwischen den Aufklärern und der Zensur vorausgegangen, in welchen Beaumarchais, der Autor von Figaros Hochzeit, eine besondere Rolle spielte. Von ihm stammt der Satz, der noch heute auf der Titelseite der französischen Tageszeitung Le Figaro zu lesen ist: “Sans la liberté de blâmer, il n’est point d’éloge flatteur”: “Ohne die Freiheit zu tadeln gibt es kein schmeichelhaftes Lob”.

Im deutschsprachigen Raum brachte Immanuel Kant die Sache auf den Punkt: “Die Freiheit der Feder”, so schreibt er, “ist das einzige Palladium der Volksrechte”. Am Anfang des Engagements für die Pressefreiheit in Deutschland und in Frankreich steht also die Überzeugung, dass es – in unseren heutigen Worten – keine Demokratie geben kann, wenn es keine informierte Öffentlichkeit gibt. Die Forderung nach wahrhafter Information und nach dem Recht, frei Stellung zu beziehen in den Debatten der Zeit, ist Kernbestand jedes demokratischen Engagements. Dementsprechend war der Kampf für Demokratie in der Zeit der Restauration nach der napoleonischen Herrschaft und im gesamten 19. Jahrhundert sowohl in Frankreich als auch in Deutschland vom Thema Pressefreiheit dominiert. Ich brauche hier nur an das Hambacher Fest von 1832 zu erinnern – die Sternstunde der demokratischen Bewegung im Vormärz – dessen zentrale Forderung die “Preßfreiheit” war.

Umgekehrt war die Einschränkung dieser Freiheit das Fundament jeder restaurativen Politik, etwa im Deutschen Bund – gemeint sind die berüchtigten Karlsbader Beschlüsse von 1819. Das gilt aber auch für das Königreich Frankreich, in dem Ministerpräsident Graf Villèle ab 1822 zahlreiche restriktive Gesetze verabschiedete. Diese antifreiheitliche Gesetzgebung trug eigentlich in beiden Ländern zur Stärkung der demokratischen Bewegung bei. So wurden die Bourbonen 1830 nach der Verabschiedung eines Erlasses endgültig gestürzt, der die Pressefreiheit explizit aufhob, während die “Mannheimer Forderungen” für einen Verfassungsstaat in Baden, die den Auftakt zur Märzrevolution bildeten, ebenfalls auf die Pressefreiheit zentriert waren. In der Zeitspanne zwischen 1830 und 1848 fanden übrigens sehr viele verfolgte deutsche Journalisten und Publizisten eine zweite Heimat in Paris. Zu nennen wären hier etwa Ludwig Börne oder Heinrich Heine. Auch nach unserer gemeinsamen Revolution 1848 war der Kampf für die Pressefreiheit immer Kernbestand der demokratischen Forderungen. So gehört das Gesetz über Pressefreiheit vom 29. Juli 1881 zu den ersten grundlegenden Entscheidungen der Dritten Republik in Frankreich, als es darum ging, das Land dauerhaft zu “republikanisieren” und eine tiefgreifende Kultur der Freiheit in der Bevölkerung zu verankern.

Den letzten Höhepunkt dieser Parallelgeschichte der Pressefreiheit vor der Wende von 1989 bildet natürlich das deutsche Grundgesetz, in dem es bekanntlich heißt: “Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt”. Somit wurde die Pressefreiheit als Freiheit der Meinungsäußerung gekennzeichnet. Das war der Sinn aller bisherigen Revolutionen: Ja, die Vielfalt der Meinungen ist ein unschätzbares Gut und ein Fundament der Demokratie, denn Demokratie lebt gerade von der Vielfalt. Diese Prinzipien erhielten eine glänzende Bestätigung durch die friedliche Revolution von 1989/1990. Sie ergab sich aus der Bürgerbewegung, die für mehr Demokratie eintrat und nicht zuletzt in Leipzig die Freiheit der Information auf ihrer Tagesordnung hatte. Das heißt: Es war eine Revolution im Namen der Meinungsvielfalt. Dieses Miteinander recht verschiedener, ja manchmal entgegengesetzter Meinungen ist heute das Merkmal unserer Länder. Gerade Deutschland ist als Bundesstaat ein Hort der Vielfalt geworden, einer Vielfalt, die in der heutigen Welt eine unglaubliche Chance ist – für Deutschland selbst, aber auch für uns Franzosen, für alle Europäer und für die ganze Welt. Die Medienlandschaft in Deutschland ist sowohl politisch als auch geografisch viel bunter als in Frankreich, und ich darf es ruhig sagen: Sie dürfen stolz darauf sein. Oft beneide ich Sie sogar als Franzose!

Dieser historische Rückblick zeigt uns, dass es eine deutsch-französische Geschichte der Pressefreiheit gibt, eine Geschichte, für die beispielhaft die Stadt Leipzig steht. Sowohl für Frankreich als auch für Deutschland gilt der Satz, den Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Ansprache zur Wiedervereinigung Deutschlands 1990 sagte: “Die Freiheit zur Wahrheit wurde das kostbarste Gut, das die Menschen durch ihren Aufstand mit eigener Courage errungen haben”. Er sagte aber auch: “Doch nun, da wir die Freiheit haben, gilt es, in ihr zu bestehen”. Wie sollen wir Deutschen und Franzosen in der Freiheit, besonders in der Pressefreiheit, bestehen?

Eine Grundannahme ist, dass die Grundrechte nur von dem leben, was wir aus ihnen machen. Was bedeutet das für uns und für unser Engagement? Soll die Pressefreiheit um der Pressefreiheit willen ausgeübt werden? Ist sie für uns ein Selbstzweck? Hier nützt uns der Rückblick auf die Geschichte der Pressefreiheit in Deutschland und in Frankreich, hier hilft die historisch-kulturelle Standortbestimmung. Weil wir wissen, dass die Pressefreiheit eine Bedingung für den Aufbau einer demokratischen Grundordnung ist, wollen wir immer wieder betonen: Die Pressefreiheit ist keine Worthülse, kein abstraktes Prinzip, das wir willkürlich zum Kardinalwert unseres Handelns auserkoren hätten. Wir verteidigen die Pressefreiheit, weil wir darin die Vorbedingung für die Verwirklichung der einzigen Grundordnung erkennen, die der Menschenwürde gerecht wird. Dementsprechend betrachten wir die Pressefreiheit und sämtliche Menschenrechte als ein zusammengehörendes Ganzes, ein Ganzes, das es gnadenlos zu verteidigen und zu fördern gilt, und zwar überall in der Welt, wo diese Grundfreiheiten bedroht werden.

Ich darf es konkret nennen: Es gibt heute noch in der Welt zu viele Länder – wobei nur ein Land schon zu viel wäre – die diese Grundrechte und die Pressefreiheit verachten und dabei Überreste totalitärer Praktiken aufweisen, die bekämpft werden müssen. Das gilt allen voran für China, das bevölkerungsreichste Land der Welt, auch eine steigende Wirtschaftsmacht, die aber das Recht auf Meinungsvielfalt missachtet. Als Franzosen und als Deutsche sollen wir es als unsere Pflicht betrachten, solche Zustände – wo auch immer sie bestehen – zu denunzieren. Denn sie sind auch auf anderen Kontinenten und in anderen Ländern zu finden, manchmal gar nicht so weit von uns. Das ist ja auch der Sinn des heutigen Preises, und gerade deshalb ist er so wichtig für uns alle. Ich möchte mich jetzt an die Journalisten wenden, die wir heute Abend ehren und die den “Preis für die Freiheit und Zukunft der Medien” erhalten: Sie kommen alle aus der ganzen Welt, aber Sie sind hier in Leipzig zu Hause, in der Stadt der Freiheitsliebe. Sie sind in allen Rechtsstaaten der Welt zu Hause, denn die Freiheit, die Sie meinen, gilt uns allen als Menschen. Für diesen mutigen, oft gefährlichen Einsatz im Namen eines der grundsätzlichsten Menschenrechte möchte ich mich bei Ihnen bedanken und Sie alle begrüßen.

Noch vor seiner Wahl zum Bundespräsidenten hatte Joachim Gauck in einer Rede erklärt, dass eine “Freiheit zu” immer auf eine “Freiheit für” hinausläuft, die die ganze Gesellschaft mit einbezieht: “Wir sind angelegt auf diese Art von Freiheit, eine Freiheit, die den anderen und ein Gegenüber zur eigenen Aufgabe macht, die uns mit dem verbindet”. Nach dieser Prämisse verdient ganz bestimmt die Pressefreiheit wie kaum eine andere den Titel einer “Freiheit für”, weil sie diese einzigartige Aufklärungsrolle hat. Der Gründervater der Dritten französischen Republik, Léon Gambetta, hat 1872 gesagt: “Partout où l’on fait un lecteur, on allume une intelligence et l’on éclaire une conscience”: “Überall, wo man jemanden zum Leser macht, entfacht man Intelligenz, und schafft Bewusstsein”. Wer für Pressefreiheit eintritt, übernimmt also eine nicht zu unterschätzende politische Verantwortung, derer sich die Journalisten bewusst sein sollten – auch und vor allem in Deutschland und in Frankreich. Damit spiele ich natürlich auch auf die jüngsten Karikaturen in Charlie Hebdo an. Was soll man dazu sagen? Diese Karikaturen waren als Provokation einer lang etablierten, entschieden antiklerikalen und antireligiösen Satirezeitschrift gemeint. Man kann Provokation für eine Art negative Freiheit halten, für eine Freiheit, die die Verantwortung missachtet. Vielleicht ist diese selbstbezogene Freiheit ein allzu leichtes Spiel, eine Karikatur in der Tat, aber eine Karikatur ihrer selbst. Vielleicht nur eine “Freiheit zu”, aber keine “Freiheit für”.

Aber vielleicht auch nicht. Es gibt ja eine lange Tradition der derben Provokation, der gewaltvollen Satire als Schocktherapie für schlummernde Geister. Das war vor allem der Fall im 19. Jahrhundert, etwa in Heines satirischen Gedichten oder bei Daumier – einem Karikaturisten eben. Man kann also zum Beispiel auch Daumier, so ungerecht, so verantwortungsunbewusst er gewesen sein mag, zu den geistigen Gründervätern der Republik in Frankreich zählen. Provokateure sind auch Herausforderer, und wenn ein Regime keine Herausforderung im Bereich der Pressefreiheit erträgt, dann ist vielleicht doch etwas faul in diesem Staate. Sollten sich etwa die Journalisten und die Satiristen selbst zensieren? Es ist eine schwierige Frage, und ich will sie sicher nicht kategorisch beantworten. Ich kann verstehen, dass die Meinungen in diesem Punkt auseinander gehen. Nicht umsonst habe ich gerade gesagt, dass diese Meinungsvielfalt eine Stärke ist. Eines ist aber sicher: Wer damit anfängt, die Meinungsfreiheit im Namen der Verantwortung einzuschränken, der setzt möglicherweise einen Prozess in Gang, dessen Ende durchaus finster sein kann. Das muss nicht nur jeder Journalist, sondern jeder Bürger allein mit seinem Gewissen ausmachen und sich fragen: Bin ich bereit, einen noch bittereren Preis zu zahlen, um Provokationen zu vermeiden? Meine Damen und Herren, Sie sind alle Lehrer der Mündigkeit: Ich lasse Ihnen die Freiheit, diese Frage selber zu beantworten.

Was uns Deutschen und Franzosen eint, ist der universalistische Anspruch unseres Freiheitsbegriffs. In diesem Begriff hat die Pressefreiheit immer eine ganz besondere Rolle gespielt, die Rolle des Juwels, das es zu schützen galt. Die anderen großen Länder der Freiheit, etwa die Vereinigten Staaten oder Großbritannien, hatten seit Längerem ihre Pressefreiheit gesichert, nur wir mussten immer wieder dafür kämpfen. Deshalb sind wir uns des einzigartigen Werts dieser Freiheit bewusst, ihres politischen und gesellschaftlichen Werts. Hier finden wir die Antwort auf unsere Frage: Wie sollen wir mit der Pressefreiheit umgehen? Wir müssen uns aufgrund unserer eigenen Geschichte und unserer gemeinsamen Prinzipien als Vorreiter im Kampf für die Pressefreiheit verstehen. Freiheit ist das deutsch-französische Gut schlechthin Es ist auch der Begriff, der den Wahlsprüchen unserer Länder gemeinsam ist. Wir feiern jetzt das fünfzigjährige Bestehen einer engen Partnerschaft, die in der ganzen Welt ohnegleichen ist, weil sie auf einem Raum der Freiheit beruht. Was diese einzigartige Partnerschaft ermöglicht hat, ist eine dauerhafte Affinität und eine Gemeinschaft von Prinzipien und Erfahrungen. Dazu gehört allen voran der besondere Sinn für die Pressefreiheit.

In einer Welt, in der die Entscheidungsprozesse zunehmend komplex und internationalisiert werden, müssen wir geschlossener denn je auftreten. Das heißt auch: Im Zentrum unseres gemeinsamen Handelns muss das stehen, was uns vereint. Das kompromisslose Engagement für die Pressefreiheit gehört zum Kern dieser deutsch-französischen Botschaft an die Welt. Wir dürfen es nie vergessen, sondern müssen es immer wieder herausstellen. Die heutige Veranstaltung ist eine wunderbare Gelegenheit dazu, zumal sie auf eine lokale Initiative zurückgeht, deren Träger unseren Dank verdienen. Dieses lokale Engagement zeugt vom ausgeprägten Bewusstsein der hiesigen Bevölkerung für diese Themen. Gerade die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger macht die Stärke unseres Engagements aus. In diesem Sinn möchte ich den diesjährigen Preisträgern sagen: Ana Lila Pérez aus Mexiko, Balász Nagy Navarro und Aranka Szávuly aus Ungarn, sowie Bettina Rühl aus Deutschland, Sie erhalten mehr als einen Preis. Sie erhalten die völlige Unterstützung zweier Völker, die geschlossen für Ihre Werte und Ihre Prinzipien eintreten wollen.