Mitglied des Europäischen Parlaments a. D.
Es gilt das gesprochene Wort
Leipzig, 6. Oktober 2017
Für ein starkes Europa ohne die Türkei
„Es gibt keine schlimmere Armut als die Unwissenheit“ lautet ein türkisches Sprichwort.
Dem zu begegnen, werden mit der Verleihung des Preises für die Freiheit und Zukunft der Medien an Deniz Yücel und Asli Erdogan in diesem Jahr nach 2009, 2015 und 2016 erneut zwei Journalisten ausgezeichnet, die unerschrocken und fundiert über die politischen Verhältnisse in der Türkei berichtet haben.
Darüber, wie Schlag auf Schlag die demokratischen Grundrechte abgebaut werden und allmählich eine Diktatur entsteht.
Beiden drohen hohe Haftstrafen wegen angeblicher Terrorpropaganda und Volksverhetzung. Allein schon diese absurde Anschuldigung spricht Bände und wirft ein bezeichnendes Licht auf die Willkür und die Verfolgungshysterie in der Türkei. Mit drastischen Maßnahmen versuchen die türkische Polizei und Justiz, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. 170 Medienhäuser wurden seit vorigem Jahr geschlossen. Mehr als 160 Journalisten sind derzeit in Haft. Kritischer, investigativer Journalismus wird als Verbrechen behandelt.
Auf der von Reportern ohne Grenzen veröffentlichten Rangliste für die Pressefreiheit ist die Türkei auf Platz 155 von 180 Ländern abgestürzt. Dort steht sie mittlerweile hinter Kongo, gefolgt von Brunei und Kasachstan.
Der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel hat zwar früher bei der taz mit heftig umstrittenen Satirebeiträgen gelegentlich die Grenze zu Zynismus und persönlicher Schmähung überschritten, doch als Türkei-Korrespondent der WELT ist er wahrlich nicht als Böhmermann aufgetreten.
Den Zorn des allmächtigen Präsidenten Erdogan hat er sich zugezogen, weil er über die korrupten Machenschaften seines Schwiegersohns und Energieministers Albayrak berichtet und darüber hinaus behauptet habe, für den Umsturzversuch im Sommer 2016 gebe es keine eindeutigen Beweise, dass dafür die Gülen-Bewegung verantwortlich sei.
Ein Putschversuch, der als Sofortreaktion – wie aus dem Handbuch der totalen Machtergreifung – landesweite Massenverhaftungen und eine von langer Hand geplante Säuberungsaktion sämtlicher staatlicher Institutionen ausgelöst hat.
Wir kennen das aus der deutschen Geschichte – vom Reichstagsbrand.
Seit 235 Tagen sitzt Deniz Yücel in Untersuchungshaft und soll offenbar als Geisel, so wie der Menschenrechtler Peter Steudtner, gegen verfolgte türkische Journalisten ausgetauscht werden, die zurecht politisches Asyl in der Bundesrepublik erhielten.
Auf einen solch schäbigen Deal dürfen wir uns nicht einlassen. Es gibt andere Möglichkeiten, die Freilassung der politischen Gefangenen zu bewirken und Präsident Erdogan zur Räson zu bringen. Wie wäre es, wenn wir endlich das machen, was allenthalben gefordert wird: die Hermesbürgschaften einstellen, die Waffenlieferungen stoppen und die Konten des Erdogan-Clan und korrupter AKP-Politiker sperren. Zudem sollte der Missbrauch von Interpol zur politischen Verfolgung von unliebsamen Regimegegnern unterbunden werden.
Bei der türkischen Schriftstellerin und Journalistin Asli Erdogan ist der Vorwurf noch abstruser.
Ihr angebliches Vergehen besteht vermutlich darin, dass sie über die Bedingungen in türkischen Gefängnissen, über Gewalt gegen Frauen und staatliche Repression gegen Kurden berichtet hat.
Zudem wird ihr übel genommen, dass sie das offiziell verordnete Leugnen des Völkermords an den Armeniern nicht eingehalten hat. Ein grausamer Genozid während des ersten Weltkrieges, den schon Franz Werfel in seinem Roman „Die 40 Tage des Musa Dagh“ beschrieben und den der deutsche Bundestag unlängst in einer Erklärung thematisiert hat. Nicht als Vorwurf, sondern weil das deutsche Kaiserreich ein Verbündeter und deswegen mitverantwortlich war. Auch weil wir wissen, wie belastend und verhängnisvoll die Verdrängung von Verbrechen und dunklen Geschichtskapiteln sein kann. Weil wir überzeugt sind, dass sich unsere Zukunft auch in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit entscheidet.
Bei Präsident Erdogan hat das schlimme Zornausbrüche ausgelöst, zu indiskutablen Verbalattacken und absurden Faschismusvorwürfen gegenüber Deutschland und deutschen Politikern geführt. Ausgerechnet von einem, Mann, der selbst einer schlechten Kopie von dem gleicht, was Deutschland überwunden hat.
Was den Umgang mit der Türkei anbelangt, brachte der zurückliegende Bundestagswahlkampf eine frappierende Überraschung.
Auch wenn im Kanzlerduell, das mehr als Duett verlief, wichtige Themen nicht angesprochen wurden oder zu kurz kamen, gab es zumindest eine klare Aussage zur Türkeifrage. Dabei verstieg sich der SPD-Spitzenkandidat, der sich stets für den Beitritt der Türkei in die EU eingesetzt hat, plötzlich zu der apodiktischen Ankündigung, dass er, wenn er Bundeskanzler wird, sofort die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abbricht. Und das, obwohl ihm geläufig sein müsste, dass man dafür die Zustimmung der Kommission und den Konsens aller Mitgliedstaaten im Europäischen Rat benötigt. Ein Gremium, das er als EU-Parlamentspräsident nicht müde wurde, als „Wiener Kongreß“ zu diffamieren. In dem angeblich die Landesfürsten zusammenkommen, um über die Köpfe ihrer Völker zu entscheiden.
Doch wer so über die repräsentative Demokratie in der EU redet, in der demokratisch gewählte Staatsoberhäupter zu Beratungen zusammenkommen, muss sich nicht über das schlechte Image der EU wundern. Verwunderlich ist allerdings, dass er vorgibt, dort als der starke deutsche Zampano aufzutreten.
Gerade in diesen angespannten Zeiten wird alles andere gebraucht als ein deutscher Polterer im Brüssler Porzellanladen. Beim Treffen der EU-Außenminister in Tallin ist diese nass-forsche deutsche Forderung auf wenig Gegenliebe gestoßen und mit einer Abfuhr für den deutschen Außenminister ausgegangen.
Gewiss müssen wir unsere Beziehungen zur Türkei angesichts der drastischen Entwicklung neu überdenken.
Während Präsident Erdogan den Rechtsstaat schleift, sucht die EU nach einer gemeinsamen Linie im Umgang mit diesem schwierigen Beitrittskandidaten. Doch dabei sind Umsicht und Bedachtsamkeit gefragt. Noch gibt es eine starke Opposition in der Türkei, die sich gegen die Usurpation wehrt. Darum dürfen die Kontakte und Gespräche mit der türkischen Zivilgesellschaft nicht abreißen.
Unabhängig von den derzeitigen Ereignissen sollten wir allerdings einen viel zu lange verschleppten Fehler korrigieren, der seinen Ursprung im Jahr 1961 hat.
Damals, nach dem Mauerbau, reifte in der auf Erweiterung angelegten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die Überzeugung, dass der hermetisch abgeriegelte und unter sowjetischer Hegemonie stehende Ostblock dafür nicht mehr in Betracht kommt. Es lag außerhalb der Vorstellungskraft, dass Länder wie Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien oder gar Ostdeutschland irgendwann mal Anschluss an den wertebasierten Westen finden könnten.
Einzig vorstellbar war eine Erweiterung in Richtung Türkei. Schließlich hatte Kemal Atatürk seinem Land mit rigorosen Methoden vorgeschrieben, Teil der modernen Welt und westlichen Zivilisation zu werden. Aus diesem Erbe nährte sich das Interesse der türkischen Eliten, in Europa dazuzugehören. Ein Anspruch, der fast so alt ist wie das Projekt der europäischen Integration.
Im Herbst 1963 kam es dann zur Unterzeichnung eines Assoziierungsvertrages. Darin heißt es etwas umständlich: „Sobald das Funktionieren des Abkommens es in Aussicht zu nehmen gestattet, dass die Türkei die Verpflichtungen aus dem Vertrag zur Gründung der Gemeinschaft vollständig übernimmt, werden die Vertragsparteien die Möglichkeit eines Beitritts der Türkei zur Gemeinschaft prüfen.“
Anders als die türkische Seite es gern darstellt, lässt sich daraus kein Anspruch auf eine Mitgliedschaft ableiten. Da die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der Türkei alles andere als kompatibel erschienen, wurde eine sehr lange Perspektive veranschlagt.
Zur gleichen Zeit, also ab 1961, kam es in der Bundesrepublik, da die Abstimmung mit den Füßen und Flucht von Arbeitskräften aus der DDR unterbrochen war, zur verstärkten Anwerbung von türkischen Gastarbeitern.
Doch im Zuge der friedlichen Revolution im Herbst 89 in der DDR und ihrer Fortsetzung in Osteuropa hätte der Erweiterungsrahmen der EU neu definieren werden müssen.
Es war ein Fehler, dass der Epochenumbruch nicht für eine Inventur genutzt wurde. Denn in all den Demonstrationen, die wir in Leipzig, Prag bis Budapest und Tallin erlebt haben, manifestierte sich der Wunsch und Wille zu einer Rückkehr nach Europa. Von Ländern, die man in dieser Hinsicht längst abgeschrieben hatte.
Deswegen hätte man mit dem Versprechen der Osterweiterung der EU andererseits der Türkei die ehrliche Antwort geben müssen, dass eine Mitgliedschaft nicht mehr in Betracht kommt. Doch das Ende des Kalten Krieges und die Überwindung der Spaltung Europas hat die EU unvorbereitet getroffen und es wurden die erforderlichen Konsequenzen versäumt.
Bis heute ist die Finalität, das was die EU einmal werden soll, nicht geklärt. Eine britische EWG, nach dem Motto: Einer Wird Gewinnen oder ein Spiel ohne Grenzen kann es nicht sein. Mittlerweile besteht Überdehnungsgefahr. Deswegen darf aus der Erfüllung der Beitrittskriterien kein Automatismus zum Beitritt abgeleitet werden.
Heute klopfen mit der Ukraine und Moldawien Länder an die Tür der EU, die in den letzten Jahren mehr Reformen und Anpassungsleistungen vollbracht haben, als die Türkei in den über 50 Jahren ihrer Anwartschaft. Inzwischen gehen Ankaras Interessen ohnehin in die Richtung einer nahöstlichen Regionalmacht.
Ziel der EU sollte es sein, einen Bereich guter Partnerschaftsbeziehungen zu schaffen. Sowohl mit der Türkei als auch mit Russland.
Für die Klarheit, dass ein Beitritt der Türkei nicht mehr in Frage kommt, ist es nicht zu spät. Sie sollte nicht erst erfolgen, wenn dort zur Aufhebung der Gewaltenteilung auch noch die Todesstrafe eingeführt wird.
Diese ehrliche Antwort würde im Übrigen der Behandlung der ebenfalls eingegangenen Bewerbung Marokkos entsprechen, die mit der Begründung abgewiesen wurde, dass nur europäische Staaten für eine Mitgliedschaft in Frage kommen.
Im Fall der Türkei kommt hinzu, dass sie weit davon entfernt ist, die Kopenhagener Aufnahmekriterien zu erfüllen. Nach wie vor bestehen schwere Defizite hinsichtlich der institutionellen Stabilität, einer demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung, der Wahrung der Menschenrechte sowie der Achtung und dem Schutz von Minderheiten. Zudem sind der Dauerkonflikt mit Griechenland und die Besetzung Zyperns von besonderer Brisanz.
Dagegen gab es immer das Argument: ein Zurückweisungsschock und gekränkter Stolz könnte dazu führen, dass die Türkei ins Chaos driftet. Was offenbar, wie wir sehen, auch durch die eingeschlagene Innenpolitik möglich ist.
Doch kann die EU bei all ihren internen Problemen ein Land gebrauchen, das bei Enttäuschung zur Bedrohung wird? Das trotz allem Entgegenkommen auf die europäische Charta der Grundrechte pfeift und dessen Präsident lauthals damit droht, uns mit der Abschiebung von Flüchtlingen in Bedrängnis zu bringen?
Aus einem vermeintlichen Reformer ist ein Despot geworden. Fatal nur, dass eine Mehrheit der in Deutschland lebenden türkischen Mitbürger, die hier den demokratischen Rechtsstaat genießen, per Verfassungsreferendum für dessen Abschaffung in der Türkei gestimmt hat. Das hat stark polarisiert und Befremden ausgelöst.
Am Vorabend des 9. Oktober ist festzustellen: Die friedliche Revolution hat den Gründungsmythos der Europäischen Union erweitert. Zu einem Europa, das nicht nur auf Versöhnung und der Friedensidee der großen alten Männer beruht, sondern auch auf dem Freiheitswillen der vielen Frauen und Männer, die ohne Gewalt eine Diktatur gestürzt und aus eigener Kraft die Demokratie, als das politische Regelwerk der Freiheit errungen haben.
Doch Freiheit ist anstrengend und Vielfalt kann zur unerträglichen Last werden.
Tief greifende Veränderungen durch die Globalisierung, neue Unübersichtlichkeiten durch eine extreme Informationsflut und Migration tun ihr Übriges. Daraus erwachsen – offenbar vorwiegend bei ostdeutschen Männern – Gefühle von Überdruss, Überforderung, Unzufriedenheit und Frust, die wiederum zu Angst, Wut und Hass führen. Darum hört man gern die Botschaft, dass man sich aus dieser komplizierten und vernetzten Welt in ein Land zurückziehen kann, in dem einfache Wahrheiten existieren, klare Kante und übersichtliche Verhältnisse herrschen.
All das bedarf der genaueren Analyse jenseits der volkspädagogischen Belehrung.
Merkwürdigerweise hat die wichtige Frage, wie es in Europa weitergeht, im Bundestagswahlkampf keine große Rolle gespielt.
Zum Glück hat jetzt der französische Präsident Macron der Idee eines vereinten Europas neues Leben eingehaucht. Seine Reformvorschläge zeichnen keine roten Linien, sondern aussichtsreiche Horizonte.
Hoffen wir darauf, dass die anstehenden Koalitionsverhandlungen bald eine handlungsfähige Regierung ergeben. Damit Deutschland möglichst rasch einen konstruktiven Part bei der Mitgestaltung der EU übernimmt. Jetzt geht es nicht um Parteien, nicht nur um unser Land, sondern um Europa.
Die Wutbürger gegen das weitere Zusammenwachsen der europäischen Nationen aufzuhetzen, dürfte eine leichte Übung für die nun im Bundestag vertretenen Rechtspopulisten sein. Sie wollten ohnehin den Euro loswerden und zur D-Mark zurückkehren. Die Gelegenheit, das Establishment, die da oben, die angeblich volksverräterischen Systemparteien in europäischen Einigungsfragen vorzuführen, könnte dem gärigen Haufen womöglich den Weg zu seiner Gründungsidee und zum innerparteilichen Frieden bahnen.
Lauthals verkünden sie, dass sie sich ihr Volk, ihr Land zurückholen wollen. Doch die übergroße Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger will nicht zurück in ein völkisches Gauland. Drum bewahren wir unsere Zivilgesellschaft. Verteidigen wir unsere weltoffene, soziale, liberale und vielfältige Bundesrepublik Deutschland.
Klar ist aber auch: Die Europäische Union kann und wird nicht so bleiben, wie sie heute ist. Alle, denen ein vereintes, starkes und demokratisches Europa am Herzen liegt, setzen darauf, dass wir eine verbesserte, eine erneuerte EU erreichen. Also mehr Europa, das heißt mehr Demokratie, mehr Solidität und Solidarität, mehr Nachhaltigkeit und mehr Klimaschutz.
Die Europäische Union ist kein Bundesstaat, sondern ein Staatenbund, der durch seine Gemeinschaftspolitik unser Zusammenleben gestaltet. Keine Militärmacht wie die Vereinigten Staaten von Amerika. Aber auch nicht so schwach wie die Vereinten Nationen. Die EU wird auch bei vertiefter Integration ein Europa der Nationen und Regionen bleiben.
Die Vereinigten Staaten von Europa halte ich für den falschen Zielbegriff. Schon weil sich Kalifornien und Texas weniger von Alabama und Montana unterscheiden als Schweden oder Frankreich von Bulgarien. Wir haben keine gemeinsame Sprache und Kultur. In der EU der 28 Staaten werden 24 Sprachen gesprochen. Das ist nicht der Turm von Babel oder Brüssel, sondern ein Schatz – unsere viel beschworene Einheit in Vielfalt.
Zwar hat die EU keine Hymne, bei der sich die Hand aufs Herz legt. Allenfalls einen Eurovision Song Contest – der die Herzen höher schlagen ließ, als Lena dabei war, und unsere gewachsene Toleranz zeigte, als Conchita Wurst gewann.
Würden wir die Ode an die Freude singen, die inoffizielle Europahymne, dann würde nicht nur der Gemeinschaftsgedanke „alle Menschen werden Brüder“ durchschillern, sondern auch eine Lösung der endlosen Finanzkrise, denn da heißt es weiter: „Unser Schuldbuch sei vernichtet, ausgesöhnt die ganze Welt“.
Allerdings ist das Europa der gemeinsamen Münzen noch kein Europa der Bürgerinnen und Bürger. Noch hat die große Idee keine Seele. Gerade jetzt, wo so vieles auf dem Prüfstand steht, Großbritannien die EU und Katalonien Spanien verlassen will, muss sich Deutschlands Stärke in der Verantwortung für Europa zeigen. Hat unsere deutsch-deutsche Erfahrung, dass wir die Teilung durch Teilen überwinden können, eine neue Herausforderung, eine europäische Dimension bekommen.
Mich öden darum die Furcht einflössenden Untergangsszenarien an. Schon vor Jahren hat das Flaggschiff des deutschen Journalismus auf seiner Titelseite den Euro versenkt. Das mag die Auflage steigern, aber nicht den Wahrheitsgehalt. Seit Jahren suche ich vergeblich danach, dass einer der kühnen Propheten, die so flotte Behauptungen und vernichtende Beiträge in Umlauf bringen, auch mal reflektiert, dass er grandios daneben gelegen hat, und sich selbstkritisch mit seiner Fehleinschätzung von gestern befasst.
Ich weiß: Medienkritik kommt schlecht an. Dieses Tabu hat allerdings zu einem selbstgefälligen Schutzwall geführt. Es wäre gut, wenn sich die Vertreter der Medien gelegentlich mal über den Schnee von gestern beugen und die verbliebenen Wässerchen klären würden. Denn nicht nur die Politik hat Verantwortung. Auch die vierte Gewalt. Deswegen sollte das Leitmotiv für Journalisten nicht nur lauten: „Sagen, was ist“, sondern auch „Sagen, was gut ist“, „Sagen, was falsch war“.
Denn wir pflegen in Deutschland einen Journalismus, der das Haar in der Suppe sucht. Und wenn er keins findet, solange den Kopf darüber schüttelt, bis eins hineinfällt.
Dann wird die Große Koalition zur krokodilartig schläfrig klingenden „Kroko“ erklärt und solange niedergeschrieben, bis die eigenen Krokodilstränen über deren miserables Wahlergebnis fließen. Obwohl die Große Koalition keine Dauerlösung sein kann, hat sie wesentlich mehr geleistet, als versprochen wurde. Dass sie erfolgreich und reibungslos so lange unser Land regiert hat, fand wenig Anerkennung. Es verlangt schon mühsame Detailarbeit, um darüber interessant und verständlich zu informieren.
Von Debattenverweigerung und vom Aussitzen war die Rede. Doch wehe, man hätte sich gestritten, in der in Deutschland so beliebten Umarmungsdemokratie, dann wäre das Zerwürfnis, der personalisierte Zoff ein Dauerthema gewesen.
So wurde der Wahlkampf wie Valium rezipiert. Dass etliche Probleme nicht angesprochen wurden, lag aber auch oft daran, dass die professionellen Fragesteller nicht die relevanten Fragen fanden. Plötzlich herrscht dann mediale Aufregung, ist vom politischen Erdbeben die Rede, als hätte man die tektonischen Ausläufer nicht hören und sehen können. Doch irgendwie wollte man das nicht wahrhaben.
Ist es Ratlosigkeit oder Hochmut, wenn eine weltweit angesehene und respektierte Politikerin, die unser Land in all den Turbulenzen und enormen Herausforderungen gut und weitsichtig regiert hat, als Mutti verunglimpft wird? Eine, die sich um den Haushalt und die Familie kümmert, aber ansonsten keine politische Peilung besitzt. Was ist das für ein Armutszeugnis emanzipierter Politik, zu meinen: Mutti sei an allem Schuld? Es gleicht der infantilen Entrüstung: das hat Mutti jetzt davon, dass ich friere, wenn sie mir keine Handschuhe angezogen hat. Hinzu kommt der Vorwurf, dass diese Frau schon viel zu lange regiert und endlich den Platz räumen sollte. Ein dezent verpacktes „Hau ab“!
Es mag ja sein, dass mancher sich die Augen reibt und die Finger wund schreibt, weil er diese unprätentiöse Frau aus der Uckermark nicht zu fassen bekommt, weil sie sich dem geschwätzigen Politikbetrieb entzieht, wo etliche Journalisten sich mehr als Politikberater verstehen und erwarten, dass ihre Leitartikel prägenden Einfluss erlangen.
Andernfalls ist Politiker-Bashing angesagt. Das nicht zuletzt auch von Journalisten kultiviert wird, die von der politischen Klasse reden, in die sie voll integriert sind. Dieses neurotische Verhältnis zu Politikern ist ein ernstes Problem. In ihrer Eliteorientierung gerät das Verständnis für die Nöte einfacher Menschen mitunter zu kurz. Kein Wunder, dass aus Politikverdrossenheit Politikverachtung geworden ist und den Mitverantwortlichen der unhaltbare Vorwurf der Lügenpresse entgegen schallt.
Kein Begriff, der an einem Montagabend vom Dresdner Himmel gefallen ist. Er hat eine lange Geschichte und gehört seit dem 19. Jahrhundert ins Arsenal der politischen Kampfvokabeln. Mal wurde er von rechts, mal von links gegen die Presse- und Meinungsfreiheit verwendet. Eine primitive Methode, wie man sich unangenehme Fakten vom Hals schafft.
Nicht erst seit Donald Trump leben wir angeblich in postfaktischen Zeiten. Umgeben von Fake-News. Schon Silvio Berlusconi und erst recht Wladimir Putin beherrschen diesen Schwindel.
Doch wie sagte der 2003 verstorbene US-Senator Moynihan: „Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber keiner das Recht auf eigene Fakten“.
Wer andere Lügner nennt, setzt sich selbst auf den Thron der Wahrheit. Nicht Verunsicherung, sondern die resolute Gewissheit, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, kennzeichnet Populisten.
Die Medien sind dem Vorwurf ausgesetzt, die AfD aufgewertet zu haben. Sie war immerhin öfter Thema als die Alltagssorgen der Menschen draußen im Land. Eine gängige Floskel, die vom Parlament in die Redaktionsräume mäandert ist. Jedes provokante Zitat, das aufgegriffen und durchgekaut wurde, all die Bilder wütender Trillerpfeifen und Hau-ab-Rufer haben das Protestpotential der AfD eher verstärkt und zur Nachahmung angeregt, anstatt dass die Ablehnung die Zumutungen gebannt hätte.
Es bleibt eine schwierige Gratwanderung zwischen Aufwertung und Aufklärung. Insbesondere im Zusammenhang mit den sozialen Medien, in denen alles verbreitet wird, egal ob erfunden oder belegt. Wo Algorithmen zu Redakteuren werden und die User in Filterblasen und Echokammern vor allem mit solchen Inhalten versorgt werden, die der eigenen Meinung entsprechen.
Lebendige Demokratie braucht deswegen kritischen, gut informierten, unabhängigen und professionellen Qualitätsjournalismus.
Nicht mehr das von Karl Marx beschriebene Gespenst geht heute um in Europa, sondern ein Gespenst von vorgestern, das Gespenst des Nationalismus. In fast jedem europäischen Land brüllen und marschieren sie jetzt, die vermeintlichen Patrioten und Identitären, die den Schlafwandlern von 1914 gleichen.
„Mit populistischen Dummheiten“, schreibt Evelyn Roll, „nationalistischen Abschottungsphantasien, Verschwörungstheorien und Scheinlösungen sammeln sie die Stimmen der Verunsicherten und Überforderten, der Abgehängten, Entkoppelten, der Denkfaulen und Verbitterten. Sie wollen vor allem eines: an die Macht. Und dann? Autokratien errichten, illiberale Scheindemokratien nach dem Muster Putin oder Erdogan. Und weiter? Europa abschaffen“.
Es liegt an uns, wie weit sie kommen. Ihnen und auch Präsident Erdogan sollten wir die türkische Lebensweisheit entgegenhalten:
„Gleich, an welchem Punkt eines Irrweges man umkehrt, es ist immer ein Gewinn!“