Erzbistum Berlin
Es gilt das gesprochene Wort.
Leipzig, 7. Oktober 2016
Freiheit als Versprechen
I.
“Jeder soll auf seine eigene Geschichte blicken und erst dann andere mit Schmutz bewerfen.” So forderte Can Dündar Ende Juli. Via Twitter hatte er damals eine Stellungnahme zu den aktuellen Entwicklungen in der Türkei veröffentlicht. In aller gebotenen Kürze will ich das Erste seines Ratschlags befolgen: auf die eigene Geschichte blicken. Natürlich nicht um mich selbst oder die katholische Kirche, von der allein ich sprechen kann und will, rein zu waschen, sondern: Weil doch nur derjenige, der den selbstkritischen Blick in den Spiegel der Geschichte nicht scheut, authentisch und wahrhaftig von eigenen Freiheitserfahrungen sprechen und für die Freiheit werben kann. Weil er oder sie die Gegenwart besser deuten und die Zukunft mutiger gestalten kann.
Die katholische Kirche hat sich schwer getan mit der Moderne. Lange Zeit lehnte sie moderne Freiheiten wie die Meinungs- und Pressefreiheit rundheraus ab. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sie sich auf einen Kurs festgelegt, der nachwirkte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Es war eine Zeit, in der “Europa zwischen Restauration, Reform und Revolution” schwankte, eine Zeit, in der sich innerkatholisch die strengkirchliche Richtung des Ultramontanismus herausbildete und durchsetzte. 1832 schrieb Papst Gregor XVI. in der Enzyklika “Mirari vos”: Die Gewissensfreiheit sei “eine törichte und falsche Ansicht, die man besser als Wahnsinn bezeichnet”.
Eine “vollkommen übermäßige Meinungsfreiheit” machte er als “Wegbereiter[in] für diesen überaus verderblichen Irrtum” aus. Vor allem die Buchdruckerkunst verfügte für den Papst über eine “von Grund auf schlechte, niemals ausreichend verurteilte Freiheit”. Und nicht zuletzt beklagte er “die aus der Pressefreiheit hervorgehende Flut an Irrtümern”. Sein Argument: “Welcher vernünftige Mensch würde behaupten, dass Gifte frei verbreitet sowie öffentlich verkauft und angeboten, ja sogar getrunken werden dürfen, weil damit […] gelegentlich jemand vor dem Untergang gerettet werden kann?” Die modernen Freiheiten – ein krankmachendes Gift, vor dem die Menschen geschützt werden mussten, am besten durch das restaurative Bündnis von Thron und Altar. Bei dieser antimodernen Haltung des Katholizismus blieb es für viele Jahrzehnte.
Die entscheidende Wende brachte das Zweite Vatikanische Konzil. Von
1962 bis 1965 versammelten sich die katholischen Bischöfe aus aller Welt
in Rom, um über die Kirche in der Welt von heute nachzudenken.
Ausdrücklicher als jemals zuvor anerkannte das Konzil im Namen der
katholischen Kirche die Forschungs-, Meinungs-, Kunst- und
Pressefreiheit. Die Autonomie von Mensch, Gesellschaft und Wissenschaft
bringe die Religion nicht in Gefahr, so das Konzil. Sie sei nicht
krankhaft, sondern durch und durch gesund.
Mit Blick auf die Medien folgte daraus die Überzeugung: “Die
Zusammenarbeit aller im Dienst des gesellschaftlichen Fortschritts
bedarf der ungehinderten Gegenüberstellung der als wichtig erachteten
Meinungen, damit im Spiel des Gebens und Nehmens, der Ablehnung und
Ergänzung, auf dem Weg der Einigung und des Kompromisses die am besten
begründeten und gesicherten Ansichten zum gemeinsamen Handeln
zusammenführen können.”
Erst 1966 wurde der in der Folge der Reformation 1557 eingeführte römische “Index der verbotenen Bücher” abgeschafft. Schon diese eine Tatsache macht deutlich, welche rasante Entwicklung die katholische Kirche innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit durchlaufen hatte. Den längst überlebten Anspruch auf eine Totalkontrolle des gesamten Geisteslebens gab sie endgültig auf. Von der grundsätzlichen Ablehnung hatte sie zur vollen Anerkennung der modernen Freiheiten gefunden – inklusive der Medien- und Pressefreiheit.
II.
Welche Erkenntnis lässt sich aus diesen kirchengeschichtlichen Andeutungen gewinnen? Hatte der Katholizismus in der Mitte des 20. Jahrhunderts einfach eine 180-Grad-Kehre in seinem Verhältnis zur Moderne vollzogen? Die historischen Indizien scheinen darauf hinzudeuten. Ich glaube dennoch, dass etwas ganz anderes vor sich gegangen war. Denn gerade in der sogenannten pianischen, von Papst Pius IX. bis Papst Pius XII. geprägten Ära der Kirchengeschichte von etwa 1850 bis 1950 bildeten sich innerhalb der katholischen Kirche ja gerade jene Vorstellungen und Denkmuster heraus, die diesen Modernisierungsschub vorbereiteten und überhaupt ermöglichten. Vor 125 Jahren, 1891, erschien die Enzyklika “Rerum novarum” von Papst Leo XIII. Sie hob nicht nur die “soziale Frage” in das Bewusstsein von Millionen Katholiken. Sie stieß entscheidend auch die Entstehung der christlichen Sozialethik als einer akademischen Disziplin an, die heute zum selbstverständlichen Fächerkanon der Theologie gehört und inzwischen (neben der Bioethik) die Medienethik als eines ihrer herausforderndsten neuen Arbeitsgebiete begreift. Hier kristallisierten sich Grundperspektiven heraus, die auch nach dem Zweiten Vatikanum und im Kern bis heute Bestand haben. Sie verdichteten sich nach und nach zu einem Prinzipientraktat mit universalem Anspruch. Er lässt sich mit Gewinn auch heranziehen, um Fragen der Pressefreiheit und der digitalen Medienrevolution zu bedenken, mit der wir es heute zu tun haben.
Mit Gewinn übrigens, so wage ich zu hoffen, nicht nur für solche, die sich Christen nennen, und nicht nur für religiöse Menschen, sondern auch für solche, die sich selbst durch und durch als säkulare Zeitgenossen verstehen. Ich will dazu im Folgenden einige Überlegungen anstellen.
Freiheit ist heute einer der zentralen Begriffe unserer Kultur: in Politik und Gesellschaft, in Wirtschaft und Recht ist er allgegenwärtig, hier in Deutschland genauso wie in Europa und in aller Welt. Aber was ist das eigentlich: Freiheit? Und was soll heißen: Freiheit der Medien und der Presse? Wer genau ist da in welcher Hinsicht frei? Und frei wovon und wofür? Ich bin überzeugt: Der Freiheitsgedanke hat tiefe religiöse Wurzeln vor allem auch im Christentum. Die christliche Stimme hat daher als eine unter vielen auch heute noch Wesentliches zum demokratischen Freiheitsdiskurs beizutragen.
Nicht der Staat, nicht die Gesellschaft, nicht das Recht, weder religiöse noch säkulare Einrichtungen und Institutionen “schaffen” Freiheit, bringen sie gleichsam wie ein Produkt aus sich selbst hervor, über das sie dann ihrerseits wieder frei verfügen könnten. Freiheit wurzelt in der Würde des Menschen, in der Würde der menschlichen Person. Worin diese Würde des Menschen gründet, ist allerdings umstritten und doch so wesentlich. Manche bezweifeln sogar, dass es eine unbedingte Würde des Menschen überhaupt gibt. Für Juden und Christen hat die Würde des freien Menschen ihre letzte Wurzel darin, dass der Mensch Abbild Gottes ist. Größeres lässt sich, so glaubt die jüdisch-christliche Tradition, vom Menschen nicht sagen, als dass er nach dem Bilde Gottes geschaffen sei. In dieser Ebenbildlichkeit besteht seine unverlierbare Würde.
Das sollte diese Würde vor jedem unbefugten Zugriff schützen – und tut es doch, wie wir leider nur allzu gut wissen, in der Wirklichkeit längst nicht immer und überall. Unser deutsches Grundgesetz bringt den gemeinten Gedanken von Größe und Ohnmacht der menschlichen Würde in dem schönen Begriff der “Unantastbarkeit” zum Ausdruck. “Die Würde des Menschen ist unantastbar.” (Art 1 GG). Aber offensichtlich wird seine Würde immer wieder angetastet, ist bedroht und wird verletzt. Die Würde des Menschen fordert von ihm aber auch, so das Zweite Vatikanische Konzil, “dass er gemäß einer bewussten und freien Wahl handelt, nämlich personal, von innen her bewegt und veranlasst, und nicht unter blindem inneren Drang oder unter dem bloßen äußeren Zwang.” Weder innerer Drang noch äußerer Zwang! Der Mensch, soll das heißen, ist weder sich selbst noch anderen einfach ausgeliefert. Er kann sich zu sich selbst und zu anderen verhalten und tut dies faktisch auch immer. Das macht seine Freiheit und Würde aus. Durch keine Macht der Welt kann sie ihm entzogen werden. All das gründet in seinem Personsein, in seiner Personalität – das erste Prinzip der christlichen Sozialethik.
Allerdings: Freiheit ist und bleibt ein Versprechen. Ein Versprechen, das sich nicht immer erfüllt, nicht immer erfüllen kann. Wir erleben das jeden Tag. Da sind eben doch tausenderlei innere Einstellungen und äußere Einflüsse, die uns hemmen und hindern, Unwägbarkeiten aller Art, die wir niemals im Griff haben werden. Freiheit – das soll ja bedeuten: “unbedingtes Sichverhalten, grenzenloses Sichöffnen und ursprüngliches Sichentschließen”, die “Fähigkeit zur Selbstbestimmung also”.
Ein hoher, ja, eigentlich zu hoher Anspruch, eine andauernde Überforderung der conditio humana. Freiheit kann daher nicht nur gelingen, sie kann auch misslingen. Sie kann nicht nur gebraucht werden, sie kann auch missbraucht werden. Sie lässt sich überspannen und kann sich selbst verfehlen. Und: Sie kann sich schuldig machen, Schuld auf sich nehmen, indem sie sich – statt die eigene Freiheit und die der anderen anzuerkennen – gegen sich selbst oder andere Freiheiten richtet. Achte ich wirklich die Grundüberzeugungen, Werthaltungen und Lebenseinstellungen des anderen, oder denke ich im Grunde genommen gering von ihm? Respektiere ich seine abweichende Meinung, oder suche ich ihn heimlich doch zu majorisieren, im unguten Sinne zu missionieren, meine eigene Sichtweise zu monopolisieren? Ist ein Journalismus noch frei, der sich von politischen und wirtschaftlichen Interessengruppen, vom Druck auch der journalistischen Mehrheitsmeinung einspannen lässt? Und umgekehrt: Ist das Freiheit, wenn Menschen zumal in den sozialen Medien immer nur dem eigenen Urteil vertrauen, der Sichtweise der anderen aber und zumal jenem Perspektivenreichtum, der in der so genannten Lügenpresse zum Vorschein kommt, mit hochmütiger Skepsis begegnen? Hier wird Freiheit zur Herausforderung. Hier bewährt sich auch die Medien- und Pressefreiheit.
Ein gutes Beispiel, an dem sich die komplexen Grenzverläufe verdeutlichen lassen, ist das satirische Fach. Humor, Ironie und Polemik stellen wertvolle Mittel dar, um pointierte Kritik an Missständen zu üben und auf Problemüberhänge hinzuweisen, die in Politik und Wirtschaft, in Religion und Gesellschaft drängend sind. Aber mitunter hat man den Eindruck, als ob dabei die Werte und Gefühle des anderen gar nicht mehr zählten, als ob jegliche Empathie verloren gegangen wäre.
Wie schnell ist dann die Grenze zum bloß noch zerstörerischen und zweckfreien Zynismus überschritten, der verletzt um der Verletzung willen. Satire kann harte Gewalt sein – um der Freiheit willen? Wichtig ist ja nicht nur das, was gesagt wird, sondern auch wie es gesagt wird. Ich stelle das immer wieder an mir selbst und bei anderen fest, nicht nur, aber gerade eben auch, wenn es um religiöse Zusammenhänge geht. Nicht nur der Inhalt zählt, sondern auch die Form, in der etwas vorgetragen wird, die Sprache, deren Stil, Duktus und Intonation. Der Ton macht die Musik.
Wer Freiheit sagt, der muss daher unmittelbar Verantwortung dazu sagen – Verantwortung für sich selbst und Verantwortung für andere. Nur verantwortete Freiheit wird der menschlichen Würde wirklich gerecht. Aus unserem Personsein selbst ergibt sich das Erfordernis, miteinander solidarisch zu sein. Niemand kann sich auf seine Freiheitsrechte berufen in dem Glauben, dass damit keinerlei Verantwortungspflichten einhergingen. Das Wohl des Einzelnen, der vielen Einzelnen lässt sich ja nur erreichen, wenn Sorge für das Gemeinwohl getragen wird, für Frieden, Zusammenhalt und soziale Gerechtigkeit. Der Freiheit entspricht daher die Verantwortung, dem sozialethischen Prinzip der Personalität das Prinzip der Solidarität. Und Solidarität bedeutet, wie Papst Johannes Paul II. einmal sagte, nichts anderes als “die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das ‘Gemeinwohl’ einzusetzen, das heißt für das Wohl aller und eines jeden, weil wir alle für alle verantwortlich sind”.
Aber was heißt das wieder konkret? Übe ich mich selbst in verantwortlichem Denken, Reden und Handeln? Übernehme ich tatsächlich Verantwortung für meine Freiheit und die des anderen, ganz konkret? Engagieren wir uns für Formen der informationellen Beteiligungsgerechtigkeit, die nicht nur die Rechte von Medienproduzenten im Blick behalten, sondern auch die der Medienkonsumenten, so sehr diese Rollen inzwischen auch verwischen mögen? Stehe ich für das Recht eines jeden ein, seine Meinung – auch wo sie mir unangenehm ist – in das Forum der Öffentlichkeit hineinzutragen, in der Hoffnung, dass dieser seinerseits seiner Verantwortung gerecht wird? Wo Medienvertreter in Kauf nehmen müssen, dass ihr Einsatz für Freiheit und Demokratie keinen geringeren Preis hat als den ihrer eigenen Freiheit, ihrer eigenen demokratischen Grundrechte, da übernehmen freie Menschen die Kosten für die Verantwortung, die sie tragen. Unsere beiden Preisträger Can Dündar und Erdem Gül verkörpern diese Haltung vorbildhaft. Journalisten wie sie, die in selbstauferlegtem Schweigen, im erzwungenen Exil oder im Gefängnis leben müssen, nehmen aber auch uns in die Pflicht. Wir leben in einer Gegenwart, in der bei uns in Deutschland, aber auch andernorts und im internationalen Zusammenhang die gesellschaftlichen Spannungen in einer Art und Weise zunehmen und sich verstärken, die noch vor kurzem unvorstellbar gewesen wäre. Das ist besorgniserregend. Wir leben wie nie zuvor in einem Zeitalter intensiver religiöser Verfolgungen, ohne dass wir davon allzu viel Kenntnis nähmen. Wir sehen, wie das freie Wort zur Bedrohung nicht nur für die berufliche Existenz, sondern für Leib und Leben überhaupt werden kann – nicht zuletzt mit religiöser Begründung. Das ist – ich möchte das in aller Deutlichkeit sagen – schlicht unerträglich, beschämend und infam!
Aber wiederum: Freiheit und Verantwortung, Personalität und Solidarität, Individualität und Sozialität – ist das wirklich mehr als eine Anhäufung von großen Worten, mehr als eine Verheißung, eine fromme Utopie? Ich bin überzeugt: Im Kern geht es um unsere Fähigkeit zur Gemeinschaft, zur communio, anders gewendet: um das Versprechen gelingender Kommunikation in Wort und Tat – unter grundlegend sich verändernden Bedingungen. Aber auch Kommunikation – wir wissen es nur zu gut – kann scheitern. Sie kann einseitig abgebrochen oder unterdrückt werden und in schlechtes Schweigen übergehen. Sie kann einfach misslingen. Nicht kommunikative Resonanzräume entstehen dann, die das wechselseitige Verstehen fördern, sondern Echo-Räume, in denen sich bestimmte Auffassungen in endlosen Feedbackschleifen immer nur selbst verstärken und bestätigen. Besonders schlimm ist es, wenn sie sich schließlich zu abgeschotteten Meinungsmilieus verfestigen und zu dogmatischen Mainstreams erstarren, die außerhalb ihrer selbst nichts anderes mehr wahrnehmen wollen und schon gar nicht akzeptieren können. “Die Tugend demokratischer Politik ist ‘Mitleidenschaft'”, so ist gesagt worden. In der Tat! Sind wir noch berührbar für Leid, das nicht unser eigenes ist? Aufmerksam für Verletzlichkeiten, die sich von unseren eigenen unterscheiden? Kommunikation kann zuletzt manipuliert und missbraucht werden. Sie wird mitunter sogar gewaltförmig und aggressiv. Auch mit Worten, so hat jüngst Papst Franziskus in Erinnerung gerufen, könne man Personen töten.
“Der Journalismus darf keine Vernichtungswaffe sein, die Einzelpersonen und sogar Völker trifft.” Klatsch und Gerade zu verbreiten, sei eine Form von Terrorismus. Mit einem Wort: Kommunikation kann zum Guten ebenso dienen wie zum Schlechten.
In den letzten Jahren ist verstärkt über den Zusammenhang von Religion und Gewalt gesprochen und gestritten worden, nicht nur mit Blick auf den Islam, sondern auch mit Blick auf das Christentum, auf das Judentum gleichermaßen wie auf Buddhismus und Hinduismus und andere religiöse Traditionen. Meine tiefe Überzeugung ist, dass Religionen im Kern ein Beitrag zum Frieden sein wollen und sollen, ein Beitrag zur Kommunikation über soziale, kulturelle und religiöse Grenzen und über vielerlei sonst unüberwindliche menschliche und zwischenmenschliche Abgründe hinweg. Der Gott, an den wir Christen glauben, ist ein zutiefst kommunikativer Gott. Mehr noch: ein Gott, den wir aus seinem innersten Wesen heraus als letzten Garanten, als Bedingung der Möglichkeit gelingender Kommunikation überhaupt begreifen. “Gott selbst ist Kommunikation”, so hat ein Theologe formuliert, “er kommuniziert sich der Welt und ermächtigt diese, selbst kommunikativ zu sein, auf dass die Schöpfung, in ihrer Kommunikation ihm ähnlich geworden, zur engsten communio mit ihm gelangt. So gesehen, geht es in der Theologie wesentlich um die Realisierung gelingender Kommunikation.” Religiöser Glaube stellt für mich eine Chance dar, aus der Spirale der Gewalt, aus dem Strudel der Missverständnisse auszubrechen. Weil er Schuld nicht durch neue Schuld überbietet oder durch den Verweis auf die vermeintlich größere Schuld der anderen.
Weil er mit pervertierter Freiheit und versagter Solidarität rechnet und dennoch auf Vergebung und Versöhnung setzt, auf Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Weil er Nachsichtigkeit erlaubt mit sich selbst und mit den Mitmenschen. Wir sind eben nur Menschen – und nicht Gott. Religiöse Überzeugungen bereiten damit den Weg für eine Kommunikation, die authentisch und wahrhaftig ist, für “die Gestaltung von Verhältnissen, die es ermöglichen, dass der Mensch in der Beziehung zu anderen und zu sich selbst aufrichtig sein kann”.
Personalität und Solidarität – das sind die ersten beiden
Grundprinzipien der christlichen Sozialethik, wie sie sich seit dem Ende
des 19. Jahrhunderts ausgebildet und im 20. Jahrhundert bewährt haben.
Noch ein drittes Prinzip kommt hinzu, das ich nicht unerwähnt lassen
möchte. Komplexe Gesellschaften wie die unsere sind ja durch funktionale
Differenzierung gekennzeichnet. Sie setzen sich – systemtheoretisch
gesprochen– aus autonomen Teilsystemen zusammen, die jeweils nach ihren
eigenen Codes und Regeln funktionieren: Recht und Politik, Wirtschaft
und Wissenschaft, Religion und Presse etc. Der selbstverständliche
Anspruch auf Autonomie, den jedes dieser Teilsysteme für sich selbst
reklamiert, wird deutlich, wenn wir uns vor Augen halten, wie hoch wir
selbst etwa die Unabhängigkeit der Justiz veranschlagen oder die
Freiheit der Wissenschaft, aber auch die Religionsfreiheit und die
Pressefreiheit.
Ich glaube, dass an dieser Stelle der Subsidiaritätsgedanke hilfreich
sein kann, den Papst Pius XII. im Jahre 1931 mit den folgenden Worten
umschrieben hat:
“Jedwede Gesellschaftstätigkeit” sei, so der Papst, “ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.” Mit anderen Worten: Der einzelne Mensch und die kleinere soziale Einheit haben stets Vorrang vor der je größeren sozialen Einheit. Die größere ist ihrerseits zur Hilfestellung für die kleinere verpflichtet und darf sich keine Kompetenzen anmaßen, für die diese selbst aufkommen kann.
In der konkreten Anwendung bedeutet das: Der Staat darf beispielsweise in die Medien- und Pressefreiheit stets nur als ultima ratio eingreifen. Die Medien sind ja ihrer Funktion nach unverzichtbare Foren der Vermittlung und der Aneignung von Information, der Meinungsbildung und der Kritik. Sie garantieren nicht zuletzt die kontinuierliche Selbstverständigung verschiedenster sozialer Gruppen über gesamtgesellschaftlich relevante Themen und Fragestellungen. Kein Staat, kein anderer Akteur kann sie in dieser essentiellen Aufgabe ersetzen. Unser Grundgesetz hält deshalb fest: “Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet.” Und: “Eine Zensur findet nicht statt.” Aber sogleich lassen die Verfassungsmütter und -väter die eindringliche Mahnung folgen: “Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.”
Wo die Arbeit der Medien oder der Presse durch den Staat in unzulässiger Weise behindert, gelenkt oder unterbunden wird, ob teilweise oder völlig, da sind gesellschaftliche Gefüge, die auf Freiheit und Verantwortung basieren, insgesamt in Gefahr. Mitunter droht sogar – um einen weiteren Begriff von Can Dündar aufzugreifen – die Entstehung „zivile[r] Repressionsregime“. Das Subsidiaritätsprinzip will die Freiheit der Presse schützen. Aber zugleich nimmt es sie in die Verantwortung, dann auch ihrerseits die Freiheit aller anderen zu schützen, zuvorderst die der Schwachen, derer, die in unserer Gesellschaft am Rande stehen – und die der eigenen Gegner.
III.
Seit einem Jahr bin ich Erzbischof von Berlin. Vorher durfte ich Bischof des Bistums Dresden-Meißen sein, zu dem auch die Stadt Leipzig mit ihren vier Prozent Katholiken gehört. Zwei große kirchliche Ereignisse haben wir in den gut zwei Jahren, die ich hier sein durfte, erlebt: die Einweihung der neuen Propsteikirche direkt gegenüber dem Rathaus im Jahre 2015 und ein Jahr später den 100. Deutschen Katholikentag. Manche Bürgerin und mancher Bürger stand beiden Ereignissen ratlos gegenüber, bei manchen war die Stimmung erregt und aggressiv. Heftige Diskussionen gab es vor allem um die auch finanzielle Unterstützung der Stadt Leipzig für den Katholikentag. In dieser Zeit ist meine Hochachtung vor manchen Politikerinnen und Politikern, vor vielen Bürgerinnen und Bürgern, vor allem aber auch vor der Leipziger Presse stark gewachsen.
Mit ihrer offenen, wachen und kritischen Begleitung, die auch viele grundsätzliche Fragen angestoßen hat, hat die Presse wesentlich zu einem vertieften Verständnis der Menschen in Leipzig untereinander beigetragen mit ihren unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Prägungen. Die Presse hat sich als ein Ort der sachlichen Auseinandersetzung, der intellektuellen Begegnung und des Aufeinanderzugehens bewährt. In dieser Zeit ist mir sehr konkret der Wert unserer Pressefreiheit deutlich geworden. Gerade in einer Gesellschaft, in der zeitgleich viele Formen des Populismus, der Pauschalisierung, der menschlichen und politischen Ausgrenzung und Verletzung für uns alle spürbar immer stärker wurden, trug diese Art, Pressefreiheit und Presseverantwortung wahrzunehmen, wesentlich zu einem achtungsvollen Miteinander bei. Sie eröffnete vielen Leipzigerinnen und Leipzigern neue Erfahrungsmöglichkeiten, neue Horizonte. Die Welle eines erregten und simplifizierenden Verhaltens, wie ich es beschrieben habe, ist seitdem weiter angeschwollen. Sie stellt eine große Herausforderung, wenn nicht sogar eine Gefahr für unsere Demokratie dar. Umso mehr sind die Anforderungen an eine verantwortete Pressefreiheit gewachsen. An eine Presse, die Freiheit nutzt, Solidarität leistet und Subsidiarität wahrt. Die Pressefreiheit ist kein Gift und keine Krankheit. Das hat die katholische Kirche in einem langen Prozess lernen müssen, und diese Lektion gilt es nicht nur für sie selbst immer wieder neu einzuholen. Die Pressefreiheit ist, wie Heribert Prantl einmal sehr treffend formuliert hat, das “täglich Brot” für die Demokratie. Ich danke allen, die uns den Wert dieses Brotes bewusst halten: unseren Preisträgern aus der Türkei und vielen Journalistinnen und Journalisten hier in Deutschland.