Präsident des Bundesverfassungsgerichtes a. D.
Es gilt das gesprochene Wort.
Leipzig, 13.10.2011.
“Die Freiheit steht an der Wiege aller großen Gedanken: Sie ist es, die
unseren Geist verfeinert und erhellt hat – gleich einem Einfluss des
Himmels; sie ist es, die unsere Vorstellungskraft befreit, vermehrt und
über sich selbst hinausgehoben hat. (…) Gebt mir die Freiheit zu wissen,
mich mitzuteilen und – vor allem – frei nach dem Gewissen zu urteilen.”
Diese Worte übersetzen eine Stelle aus der englischsprachigen Schrift
“Areopagitica”, die der Dichter und Publizist John Milton im Jahr 1644
verfasst hat. Miltons Abhandlung ist wohl das erste Plädoyer für eine
freie und unzensierte Presse in der Menschheitsgeschichte. Zugleich ist
es eines der ersten Dokumente, das den untrennbaren Zusammenhang von
Gedanken-, Meinungs- und Pressefreiheit erkennt. Mit diesem, die
Freiheitsbereiche im Zusammenhang sehenden Ansatz führt Miltons
lesenswerte Schrift direkt in unser heutiges Verfassungsverständnis von
der Bedeutung einer freien Presse hinein. Als nämlich rund 300 Jahre
später das Grundgesetz im Jahr 1949 in Kraft trat, stellte es in Art. 5
Abs. 1 GG die Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit unter Schutz und
garantierte gleichzeitig das Recht, sich aus allgemein zugänglichen
Quellen zu informieren. Diese – auch nach 60 Jahren im Wortlaut
unveränderte – Garantie ist auch als Reaktion auf die verheerenden
Erfahrungen des Nationalsozialismus zu verstehen, unter dem die Presse
zum Werkzeug der NSDAP und des Staatsapparates gemacht und die freie
Meinungsäußerung mit einem nie da gewesenen Terrorregime im Ansatz
erstickt worden waren.
Nach dem Verständnis des Grundgesetzes ist eine freie, nicht von der öffentlichen Gewalt gelenkte, keiner Zensur unterworfene Presse ein Wesenselement des freiheitlichen Staates; sie ist für die moderne Demokratie unentbehrlich. Soll nämlich der Bürger politische Entscheidungen treffen, so muss er sich umfassend informieren und auch die Meinungen vergleichen können, die andere sich gebildet haben. Zugleich steht die Presse in der repräsentativen Demokratie als ständiges Verbindungs- und Kontrollorgan zwischen dem Volk und seinen gewählten Vertretern in Parlament und Regierung. Sie trägt politische Forderungen und Kritik an die politisch handelnden Staatsorgane heran, die auf diese Weise ihre Entscheidungen auch in Einzelfragen der Tagespolitik ständig am Maßstab der in der Gesellschaft tatsächlich vertretenen Auffassungen messen können. Dabei kann diese wichtige Aufgabe der Presse für die Öffentlichkeit nur von Presseunternehmen geleistet werden, die sich im gesellschaftlichen Raum frei bilden können und miteinander in geistiger und wirtschaftlicher Konkurrenz stehen.
Dem Institut einer freien Presse kommt in der Demokratie also eine überaus große, ja eine letztlich konstituierende Bedeutung zu. Ähnliches lässt sich für die verfassungsrechtliche Bedeutung des Rundfunks und allgemein des Rechts der öffentlichen Meinungsäußerung anführen.
Meinungsäußerungen genießen den Schutz des Grundrechts des Art. 5 Abs. 1 GG, ohne dass es darauf ankommt, ob die Äußerung begründet oder grundlos, emotional oder rational ist, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt wird. Die Bürger sind von Rechts wegen nicht verpflichtet, die dem Grundgesetz zu Grunde liegenden Wertungen persönlich zu teilen. Die Verfassung basiert zwar auf der Annahme und der Erwartung, die Bürger würden die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und für sie eintreten, verlangt dagegen von Rechts wegen keine Werteloyalität. Die Verfassung vertraut, so heißt es in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts immer wieder, auf die Kraft der freien Auseinandersetzung als effektivste Waffe gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien. Selbst den Gefahren, die aus der Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts drohen, entgegenzutreten, weist das Grundgesetz in erster Linie dem bürgerlichen Engagement im freien politischen Diskurs, aber auch der staatlichen Aufklärung und Erziehung in den Schulen zu.
Aber natürlich bestehen auch die so hochrangigen Freiheiten der Meinungsäußerung, der Presse und des Rundfunks nicht schrankenlos, und diese Freiheiten bedeuten auch nicht, dass die staatliche Rechtsordnung sich jeder Regelung dieser Bereiche enthalten müsste; vielmehr findet die Meinungsfreiheit wie auch speziell die Pressefreiheit ihre Schranken in den allgemeinen Gesetzen (Art. 5 Abs. 2 GG). Deshalb ist der Gesetzgeber berechtigt und angesichts seiner Verantwortung für das Gesamtwohl letztlich auch verpflichtet, rechtliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine geordnete und daher gemeinverträgliche Wahrnehmung der Medienfreiheiten ermöglichen.
Unter allgemeinen Gesetzen sind solche Gesetze zu verstehen, die nicht eine Meinung als solche verbieten, die sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten, sondern dem Schutz eines schlechthin ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts dienen. Es geht also um die Wahrung von Rechtsgütern, die in der Rechtsordnung allgemein und damit unabhängig davon geschützt sind, ob sie durch Meinungsäußerungen oder auf andere Weise verletzt werden können.
In einer jüngeren Entscheidung vom 4. November 2009 hat das Bundesverfassungsgericht diese Kriterien nochmals konkretisiert: Die Allgemeinheit eines Gesetzes setze voraus, dass die Vorschrift in rechtsstaatlicher Distanz gegenüber konkreten Auseinandersetzungen im politischen oder sonstigen Meinungskampf strikte “Blindheit” oder Neutralität gegenüber denen gewährleistet, auf die sie letztlich angewendet werden soll. Entsprechend dem Verbot der Benachteiligung oder Bevorzugung wegen politischer Anschauungen nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG setzt daher auch der Art. 5 Abs. 2 GG für Beschränkungen der Meinungsfreiheit ein spezifisches und striktes Diskriminierungsverbot gegenüber bestimmten Meinungen voraus. Oder anders ausgedrückt: Gesetzliche Verbote oder Beschränkungen, die den Inhalt von Meinungsäußerungen betreffen und die durch solche Meinungsäußerungen verursachte Verletzungen von Rechtsgütern unterbinden oder sanktionieren sollen, sind nur unter strenger Neutralität des Staates und Gleichbehandlung im politischen oder sonstigen Meinungskampf zulässig.
Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings in einem speziellen Fall eine Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts für meinungsbezogene gesetzliche Verbote anerkannt: Bestimmungen, die wie die neu gefasste Vorschrift über die Strafbarkeit der Volksverhetzung im § 130 Abs. 4 StGB, die propagandistische Gutheißung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft unter Strafe stellen, sind zwar keine allgemeinen Gesetze im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG. Das Recht der freien Meinungsäußerung unterliegt aber insoweit einer immanenten Schranke: Die Befürwortung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft ist in Deutschland ein Angriff auf die Identität des Gemeinwesens nach Innen mit friedensbedrohendem Potenzial. Der geschichtlich begründeten Sonderkonstellation durch besondere Vorschriften Rechnung zu tragen, will Art. 5 Abs. 1 und Abs. 2 des Grundgesetzes nicht ausschließen. Das menschenverachtende Regime der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft habe für die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland eine gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung. Das bewusste Absetzen von der Unrechtsherrschaft des Nationalsozialismus war historisch zentrales Anliegen aller an der Entstehung sowie Inkraftsetzung des Grundgesetzes beteiligten Kräfte. Das Bundesverfassungsgericht betont in diesem Zusammenhang allerdings die besondere Enge dieses Ausnahmetatbestandes. Das Grundgesetz rechtfertige kein allgemeines Verbot der Verbreitung rechtsradikalen oder auch nationalsozialistischen Gedankenguts schon in Bezug auf die rein geistige Wirkung seines Inhalts.
Es ist ausgeschlossen, in der Kürze der Zeit die rechtlichen Strukturen und die Einzelheiten des komplizierten Geflechts von Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit sowie der sie einschränkenden Rechtspositionen auch nur annähernd vollständig wiederzugeben. Ich werde deshalb ohne Anspruch auf Vollständigkeit anhand einiger Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts exemplarisch versuchen, einen Einblick in die heute aktuellen Probleme und Argumentationsstandards aus verfassungsrechtlicher Sicht zu geben. Dabei konzentriere ich mich auf den Bereich der Meinungs- und Pressefreiheit und lasse die spezifischen Fragen der Rundfunkfreiheit aus Zeitgründen bewusst außen vor. Ich beginne mit dem Verhältnis der Pressefreiheit zu staatlichen Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen und gehe anschließend über zum komplizierten Spannungsverhältnis zwischen Meinungs- und Pressefreiheit einerseits und den Grundrechten der von der Berichterstattung Betroffenen, insbesondere deren allgemeinem Persönlichkeitsrecht, andererseits.
I. Grenzen staatlicher Eingriffe in die Pressefreiheit
Im CICERO-Urteil vom 27. Februar 2007 entschied das Bundesverfassungsgericht über Verfassungsbeschwerden, die sich gegen die Anordnung einer Durchsuchung von Redaktionsräumen des Politikmagazins “CICERO” und die Beschlagnahme der dort aufgefundenen Beweismittel richteten. Die Durchsuchung und Beschlagnahme standen in Zusammenhang mit staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen unter anderem gegen den Beschwerdeführer – den Chefredakteur des Magazins “CICERO” – wegen Beihilfe zur Verletzung des Dienstgeheimnisses. Anlass der Ermittlungen war ein in dem Magazin erschienener Artikel über einen Terroristen, in dem in zum Teil sehr detaillierter Weise auf einen als Verschlusssache gekennzeichneten Auswer-tungsbericht des Bundeskriminalamts Bezug genommen und aus diesem Bericht ausführlich zitiert wurde.
Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts stellten die Durchsuchung und die Beschlagnahme einen verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigten Eingriff in die Pressefreiheit dar. Denn der gegen den Beschwerdeführer gerichtete Tatverdacht der Beihilfe zum Geheimnisverrat stützte sich einzig auf den im “CICERO” erschienenen Artikel sowie auf Hinweise, dass der Verfasser des Artikels – ein freier Journalist – im Besitz des erwähnten Berichts des Bundeskriminalamts gewesen sein musste. Demgegenüber lagen keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Absicht eines Geheimnisträgers des Bundeskriminalamts vor, der auf die Veröffentlichung der von ihm offenbarten Dienstgeheimnisse hinzielte. Will jedoch ein Geheimnisträger nur Hintergrundinformationen liefern, ist die Straftat des Geheimnisverrats bereits mit der Offenbarung des Geheimnisses beendet. Durch die nachfolgende Veröffentlichung des Dienstgeheimnisses kann dann keine Beihilfe mehr geleistet werden.
Damit ist es zwar verfassungsrechtlich noch nicht zu beanstanden, wenn die Staatsanwaltschaft gegen einen Journalisten in einer Situation wie der damaligen ein Ermittlungsverfahren einleitet. Würde aber jedweder Verdacht zugleich für die Anordnung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen ausreichen, hätte es die Staatsanwaltschaft in der Hand, durch die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens den besonderen grundrechtlichen Schutz der Medienangehörigen selbst dann zum Wegfall zu bringen, wenn die Anhaltspunkte für eine Beihilfe schwach sind. Dies würde zu dem Risiko führen, dass die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen einen Journalisten mit dem ausschließlichen oder überwiegenden Ziel einleitete, auf diese Weise den Informanten festzustellen. Dies aber widerspräche dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Informantenschutz.
Der Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG gebietet, diesem Risiko entgegenzuwirken. Die strafprozessualen Normen über Durchsuchung und Beschlagnahme müssen deshalb dahingehend ausgelegt werden, dass die bloße Veröffentlichung eines Dienstgeheimnisses durch einen Journalisten nicht ausreicht, um einen insoweit genügenden Verdacht der Beihilfe zum Geheimnisverrat zu begründen. Zu fordern sind vielmehr spezifische tatsächliche Anhaltspunkte für eine vom Geheimnisträger bezweckte Veröffentlichung des Geheimnisses. Liegen diese nicht vor, sind Durchsuchungen und Beschlagnahmen bei einem Journalisten jedenfalls verfassungswidrig.
Der CICERO-Entscheidung lassen sich damit für die Grenzen hoheitlicher Maßnahmen gegenüber der Presse vor allem zwei – eng miteinander zusammenhängende – Aussagen entnehmen:
Die erste Aussage lautet: Die bloße Veröffentlichung eines Dienstgeheimnisses durch einen Journalisten reicht im Hinblick auf das in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes gewährleistete Grundrecht der Pressefreiheit nicht aus, um einen zur Durchsuchung und Beschlagnahme genügenden Verdacht der Beihilfe des Journalisten zum Geheimnisverrat zu begründen.
Dem liegt eine weitere, schon im SPIEGEL-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. August 1966 enthaltene wichtige Aussage zugrunde: Durchsuchungen und Beschlagnahmen in einem Ermittlungsverfahren gegen Presseangehörige sind verfas-sungsrechtlich unzulässig, wenn sie ausschließlich oder vorwiegend dem Zweck dienen, die Person eines Informanten zu ermitteln.
Ich verlasse damit den Bereich presserechtlicher Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffsmaßnahmen.
II. Das Verhältnis der Pressefreiheit zu anderen
Rechtsgütern
1. Allgemeines:
Dass die Ausübung der Meinungs- oder der Pressefreiheit mit den
Grundrechten anderer Personen, insbesondere mit dem allgemeinen
Persönlichkeitsrecht derjenigen, über die berichtet wird, kollidieren
kann, liegt auf der Hand. Die Landespressegesetze schreiben zwar einige
formale Rechte und Pflichten fest: So muss ein verantwortlicher
Redakteur benannt werden und es werden Gegendarstellungsansprüche
normiert, andererseits hat die Presse einen Auskunftsanspruch gegenüber
Behörden und die Presse wird strafrechtlich privilegiert, indem zum Teil
besondere Voraussetzungen für die Beschlagnahme von Presseerzeugnissen
und eine verkürzte Verjährung von Pressedelikten gelten. Es liegt aber
auf der Hand, dass sich so nicht alle Konflikte befriedigend lösen
lassen. Und so kommt es denn auch häufig zu zivilrechtlichen
Unterlassungs- und Schadenersatz-streitigkeiten zwischen den
Presseunternehmen und den von einer Berichterstattung Betroffenen. Es
bedarf inhaltlicher Kriterien, wie weit die Presse Rechtspositionen
Dritter, insbesondere die Persönlichkeitsrechte derjenigen, über die sie
berichtet, beachten muss. Weil aber das einschlägige Zivilrecht die
Voraussetzungen der Unterlassungs-, Widerrufs- und
Schadensersatzan-sprüche nur recht allgemein formuliert, ist die
Rechtsprechung zur Konkretisierung im Einzelfall aufgerufen, indem sie
die einfachgesetzlichen (zivilrechtlichen) Abwehransprüche “im Lichte”
der widerstreitenden Grundrechte sowohl der Presse als auch der
Betroffenen auslegt. Dieser Ansatz ist zunächst in der berühmten
Lüth-Entscheidung entwickelt und danach in Jahrzehnten verfeinert
worden.
2. Lüth-Rechtsprechung
Das Lüth-Urteil vom 15. Januar 1958 befasste sich mit der Bedeutung der
Meinungsfreiheit zwischen Privatpersonen; ihm lag folgender Sachverhalt
zugrunde: Der damalige Vorsitzende des Hamburger Presseklubs, Erich
Lüth, rief im Jahr 1950 in einer Rede und in einem offenen Brief dazu
auf, den Film “Die unsterbliche Geliebte” des Regisseurs Veit Harlan zu
boykottieren. Veit Harlan hatte zur Zeit des Nationalsozialismus u. a.
den antisemitischen Hetzfilm “Jud Süß” gedreht. Lüth wollte verhindern,
dass – vor allem im Ausland – der Eindruck entstehe, ein neuer Aufstieg
des deutschen Films sei mit der Person Harlans verbunden. Daraufhin
verklagten die Hersteller- und die Verlei-firma des Films “Die
unsterbliche Geliebte” Lüth auf Unterlassung der Boykottaufrufe. Das
Landgericht Hamburg gab der Klage mit der Begründung statt, der
Boykottaufruf stelle eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung im Sinn
von § 826 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) dar. Hiergegen erhob Lüth
Verfassungsbeschwerde, weil er sein Grundrecht auf freie
Meinungsäußerung verletzt sah.
Das Bundesverfassungsgericht gab dem Beschwerdeführer Lüth Recht und stellte in seiner wegweisenden Entscheidung zunächst fest, dass die Grundrechte, also sowohl die Meinungsfreiheit als auch der Persönlichkeitsschutz Betroffener, nicht nur Abwehr-rechte gegen den Staat begründen, sondern als Ausdruck einer “objektiven Werteordnung” auch ganz maßgeblichen Einfluss darauf haben, wie die zwischen Privatpersonen geltenden Vorschriften auszulegen sind. Zwar führt das dazu, dass neben Strafnormen wie dem Tatbestand der Beleidigung (§ 185 StGB) auch zivilrechtliche Normen – also gerade auch solche über Unterlassungs- und Schadenersatzansprüche – als “allgemeine Gesetze” im Sinne von Art. 5 Abs. 2 GG die Meinungsfreiheit grundsätzlich zugunsten anderer Rechtsgüter einschränken können. Ganz maßgeblich für die weitere Entwicklung gerade auch im Bereich des Pressewesens war aber, dass nach Auffassung des Gerichts die bloße Existenz eines solchen “allgemeinen Gesetzes” die Beschränkung der Meinungsfreiheit allein noch nicht rechtfertigt. Vielmehr müssen die einfachgesetzlichen Einschränkungen ihrerseits an der Bedeutung der Meinungs- und Pressefreiheit gemessen und gegebenenfalls entsprechend ausgelegt und einschränkend angewandt werden. Dabei geht es – und das ist entscheidend – nicht nur um eine allgemein gehaltene Betrachtung der gesetzlichen Vorschriften. Vielmehr müssen anhand des konkret umstrittenen Sachverhalts alle Besonderheiten des jeweiligen Falles berücksichtigt werden. Aus diesem Grund lässt sich die Lösung gerade der umstrittenen Fälle regelmäßig nicht aus dem Gesetzeswortlaut selbst ablesen, sondern führt erst die gerichtliche Ermittlung und Bewertung der Einzelfall-Umstände unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Werteordnung zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis.
So hielt das Bundesverfassungsgericht es beispielsweise im Falle Lüths für wesentlich, dass keine wirtschaftlichen – etwa aus einer Konkurrenz entspringenden – sondern politische und kulturpolitische Motive verfolgt wurden. Auch die tatsächlichen Auswirkungen des Aufrufs auf die künstlerische und menschliche Existenz Harlans, die (wegen der Lüth als Privatmann nicht zu Gebote stehenden Zwangsmittel und wegen der Möglichkeit Harlans, im Filmwesen ggf. noch andere künstlerische Betätigungsmöglichkeiten als die Spielfilmregie zu finden) jedenfalls nicht Harlans Menschenwürde verletzten, wurden berücksichtigt; ebenso der Umstand, dass den betroffenen Firmen und Harlan selbst die Möglichkeit offenstand, öffentlich ihre eigene Auffassung der Position Lüths gegenüberzustellen. Vor allem aber galt es, die Grundentscheidung der Verfassung für die freie Bildung der öffentlichen Meinung herauszustellen, zugunsten derer private Interessen jedenfalls dann zurückstehen müssen, wenn die Diskussion – wie im Fall Lüth – Gegenstände “von allgemeiner Bedeutung und ernstem Gehalt” betreffe. Aus all diesen Gründen hob das Bundesverfassungsgericht 1958 die gegen Lüth gerichteten Unterlassungsurteile auf.
3. Caroline von Hannover
Ich mache einen Sprung von 50 Jahren zum Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2008. In dieser Entscheidung
ging es um die Zulässigkeit von vier unterschiedlichen
Bildberichterstattungen in Zeitschriften über die Prinzessin Caroline
von Hannover.
Das einschlägige Kunsturhebergesetz sieht hierzu zwar eine Regelung vor, bleibt aber recht allgemein: Danach dürfen Bildnisse im Ausgangspunkt nur mit Einwilligung des Abgebildeten verbreitet werden. Eine Ausnahme vom Einwilligungserfordernis gibt es allerdings u. a. dann, wenn es sich um Bildnisse aus dem Bereich der “Zeitgeschichte” handelt. Diese Ausnahme wiederum gilt nicht für eine Verbreitung, durch die “berechtigte Interessen des Abgebildeten” verletzt werden. Die Konkretisierung der Begriffe “Zeitgeschichte” und “berechtigte Interessen” ist seit je Sache der Rechtsprechung, die diese Begriffe im Zuge der Lüth-Judikatur des Bundesverfassungsgerichts “im Lichte der Verfassung” auszulegen hat, also unter Berücksichtigung sowohl der konstituierenden Bedeutung der Meinungs- und Pressefreiheit als auch gegenläufiger Grundrechte der Abgebildeten. Die deutschen Zivilgerichte hatten – mit Billigung des Bundesverfassungsgerichts – in diesem Zusammenhang ursprünglich die Figur der “Person der Zeitgeschichte” entwickelt, wobei “relative Personen der Zeitgeschichte”, die durch ein bestimmtes zeitgeschichtliches Ereignis das Interesse auf sich ziehen, ohne Einwilligung nur im Zusammenhang mit diesem Ereignis abgebildet werden durften, während diese Beschränkung nicht für “absolute Personen der Zeitgeschichte” gelten sollte, die aufgrund ihres Status und ihrer Bedeutung allgemein öffentliche Aufmerksamkeit finden und selbst Gegenstand der Zeitge-schichte sind. Ihnen wurde nur die Möglichkeit zugestanden, sich an erkennbar abgeschiedenen Orten – nicht nur im häuslichen Bereich – unbehelligt von Bildberichterstattungen zu bewegen.
Gegen diese typisierte Beschränkung des Schutzes der Privatsphäre bei den “absoluten Personen der Zeitgeschichte” hatte sich im Jahr 2004 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gewandt. Zwar muss auch nach der europäischen “Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)” das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens abgewogen werden gegen die Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit . Dabei müsse der Blick aber stärker als nach der deutschen Rechtsprechungstradition auf die von der betroffenen Person wahrgenommene Aufgabe und auf den Inhalt der Presseberichterstattung gerichtet werden. Es sei zu unterscheiden zwischen einer Berichterstattung zu “Fragen allgemeinen Interesses”, also über Tatsachen, die zur demokratischen Diskussion beitragen und Personen des politischen Lebens betreffen, einerseits und einer (unzulässigen) Berichterstattung über Einzelheiten des Privatlebens einer Person, die keine solchen Aufgaben hat, so dass es nur um die Befriedigung der Neugier des Publikums gehe, andererseits.
Zwar hat die Europäische Menschenrechtskonvention in Deutschland nur den Rang eines Gesetzes, also keinen Verfassungsrang und steht vor allem nicht über der Verfassung: Das Bundesverfassungsgericht hat die deutschen Gerichte aber verpflichtet, die deutschen Gesetze sowohl verfassungskonform als auch nach Möglichkeit völkerrechtsfreundlich auszulegen und die konventionsrechtlichen Wertungen auch bei der Auslegung der Grundrechte der deutschen Verfassung zu berücksichtigen.
Aus diesem Grund haben die zuständigen Zivilgerichte die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs zum Anlass genommen, ihre jahrelange Rechtsprechung nicht unerheblich zu korrigieren. Es wird zwischenzeitlich maßgeblich auf den “Informationswert der Abbildung” und damit auf den “Bezug zu einer Sachdebatte von allgemeinem Interesse” geachtet. Das Bundesverfassungsgericht hat dies in seinem Beschluss vom 26. Februar 2008 auch verfassungsrechtlich im Wesentlichen gebilligt und so einen weitgehenden Gleichklang zwischen Konventions- und Verfassungsrecht hergestellt. Dabei hat es allerdings sorgsam darauf geachtet, die Bedeutung der Meinungs- und Pressefreiheit gebührend zu berücksichtigen. Es hat deshalb klargestellt, dass der Schutzbereich der Pressefreiheit “auch unterhaltende Beiträge über das Privat- oder Alltagsleben von Prominenten und ihres sozialen Umfelds, insbesondere der ihnen nahestehenden Personen, umfasst. Es würde die Pressefreiheit über Gebühr einengen, bliebe die Lebensführung dieses Personenkreises außerhalb ausgeübter Funktionen einer Berichterstattung grundsätzlich entzogen. Allerdings wird dem Anliegen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dadurch Rechnung getragen, dass in jedem Einzelfall eine Abwägung vorzunehmen ist und bei der Gewichtung des Informationsinteresses im Verhältnis zum kolli-dierenden Persönlichkeitsschutz dem Gegenstand der Bildberichterstattung maßgebliche Bedeutung zukommt, also insbesondere der Frage, ob es ausschließlich um Befriedigung der Neugier in Privatangelegenheiten geht. Dabei ist auch der Kontext der Wortberichterstattung zu berücksichtigen. Auch ist es der Presse, die ohne Einwilligung berichtet, verfassungsrechtlich gesehen grundsätzlich zumutbar, dass in einem Prozess nicht der klagende Betroffene, sondern sie selbst gegenüber dem Gericht die Umstände darlegen und ggf. beweisen muss, unter denen das Bild entstanden ist.
Konkret behandelte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vier Bildveröffentlichungen über Caroline von Hannover, die selbst kein öffentliches Amt bekleidet. Die Veröffentlichung von zwei Bildern war auch unter Berücksichtigung der besonderen Bedeutung der Pressefreiheit ohne Einwilligung nicht zulässig. Ein Foto zeigte Caroline von Hannover zusammen mit ihrem Ehemann in St. Moritz unter vielen Menschen auf einer öffentlichen Straße im Zusammenhang mit einem Artikel über den Winterurlaub des Ehepaares ebendort. Das Bundesverfassungsgericht beanstandete nicht die zivilgerichtliche Wertung, dass es sich um keinen Beitrag zu einer Diskussion von allgemeinem Interesse und um keine Information über ein zeitgeschichtliches Ereignis handele, sondern um eine Bildberichterstattung über den Urlaub, der auch bei “Prominenten” zum grundsätzlich geschützten Kernbereich der Privatsphäre gehört.
Ein anderes Foto zeigte die Eheleute im Sessellift während eines Skiurlaubs im Rahmen eines Berichts über den alljährlich in Monaco stattfindenden “Rosen-Ball”. Auch hier beanstandete das Bundesverfassungsgericht nicht die zivilgerichtliche Einschätzung, dass ein solcher Ball zwar ein “zeitgeschichtliches Ereignis” sein kann, dass die den Urlaub, also den Privatbereich, betreffende Bebilderung mit der den Ball betreffenden Wortberichterstattung aber gerade nichts zu tun habe und deshalb ohne Einwilligung unzulässig sei.
Demgegenüber sollte in zwei anderen Fällen das Informationsinteresse überwiegen. Ein Foto zeigte Caroline von Hannover und ihren Ehemann im Skiurlaub auf einer Straße in St. Moritz im Rahmen eines Berichts über die Erkrankung ihres Vaters, des damals regierenden Fürsten von Monaco, und über seine Krankenpflege durch seine Kinder. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte die zivilgerichtliche Beurteilung, dass die Wortberichterstattung über den damals regierenden Fürsten einschließlich seiner Krankenpflege durch seine Kinder ein zeitgeschichtliches Ereignis war, über das berichtet werden darf. Im Ergebnis “strahlte” die Zulässigkeit der Wortberichterstattung über das zeitgeschichtliche Ereignis damit quasi auf die Bildberichterstattung über die Urlaubssituation “aus”, zumal keine erschwerenden Umstände, wie z. B. eine Ausnutzung von Heimlichkeit oder der Einsatz entsprechender technischer Mittel bei der Erstellung der Aufnahmen, ersichtlich waren.
Ein anderes Foto zeigte Caroline von Hannover im Urlaub neben ihrem Ehemann auf einer öffentlichen Straße mit anderen Menschen im Rahmen einer Wortberichterstattung über die entgeltliche Vermietung einer den Eheleuten gemeinsam gehörenden Ferienvilla. Die Zivilgerichte hatten hier sowohl die Bild- als auch die Wortberichterstattung pauschal auf den Kernbereich der Privatsphäre bezogen und deshalb für unzulässig gehalten. Demgegenüber hielt es das Bundesverfassungsgericht für vorstellbar, dass die Wortberichterstattung über die Vermietung einer Villa als veränderte ökonomische Verhaltensweise Prominenter mit “Leitbild- oder Kontrastfunktionen für große Teile der Bevölkerung” einen “Anlass für sozialkritische Überlegungen der Leser” und damit für eine Sachdebatte darstellt. Weil das wiederum Auswirkungen auch auf die Bildberichterstattung haben könnte, wurde die Sache insoweit an die Zivilgerichte zur erneuten Prüfung zurückverwiesen.
III. Schluss
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Meine Ausführungen konnten aus Zeitgründen nur einen kleinen Teil der verfassungsrechtlichen Probleme im Zusammenhang mit der Meinungs- und Pressefreiheit behandeln. Ich hoffe aber zwei Dinge deutlich gemacht zu haben: Erstens, dass das Bundesverfassungsgericht die Erhaltung der Meinungs- und Pressefreiheit gegenüber staatlichen Eingriffen sehr ernst nimmt; und zweitens, dass in dem komplizierten Spannungsverhältnis zwischen Meinungsfreiheit und kollidierenden Grundrechten betroffener Privater das Bemühen um einen fairen Ausgleich aller betroffenen Grundrechte im Vordergrund steht, der auch der Unentbehrlichkeit der Meinungs- und Pressefreiheit für die Demokratie Rechnung trägt. Dieser Ansatz ist zwar kompliziert, aber angesichts der überragenden Bedeutung der Grundrechte jeder Mühe wert.
Es ist übrigens für den Zustand der Meinungs- und Pressefreiheit in diesem Land ein gutes Zeichen, dass in der forensischen Praxis Beschränkungen der Medienfreiheiten weniger durch den Staat selbst, sondern solche zum Schutz gegenläufiger Grundrechte Privater im Vordergrund stehen.
Die Verfassung gewährleistet die Meinungsfreiheit als Geistesfreiheit unabhängig von der inhaltlichen Bewertung ihrer Richtigkeit, rechtlichen Durchsetzbarkeit oder Gefährlichkeit. Die Grundrechte erlauben nicht den staatlichen Zugriff auf die Gesinnung, sondern ermächtigen erst dann zum staatlichen Eingriff, wenn Meinungsäußerungen die rein geistige Sphäre des “Für-richtig-haltens” verlassen und in Rechtsgutsverletzungen oder erkennbar in Gefährdungslagen umschlagen. “Die Gefährlichkeit von Meinungen als solche ist kein Grund, sie zu verbieten” (Masing, Süddeutsche Zeitung vom 1. März 2011, S. 6). Dies gilt erst recht für die – aus der Sicht der Mehrheit – abstoßenden, wertlosen, “minderwertigen” oder Geschichte verfälschenden Meinungen. Das gehört zum Fundament des freiheitlichen Rechtsstaats. Wer diesen Satz nicht gelten lassen will, vergreift sich am Fundament des Rechtsstaats.