Intendant des Zweiten Deutschen Fernsehens ZDF
Es gilt das gesprochene Wort.
Leipzig, 8.10.2014
Zu “25 Jahren Mauerfall” und zur Freiheit hier in
Leipzig am 8. Oktober 2014 sprechen zu dürfen, ist eine große Ehre und
ehrliche Freude zugleich. Sprechen wir also über die Freiheit, besonders die Freiheit der Medien, und über die Zukunft
von beiden. Ich tue es aus der Praxis eines elektronischen Mediums
heraus, will aber zuerst einen anderen sprechen lassen, damit wir die
Atmosphärik der Wende etwas gegenwärtiger haben. Unser damaliger
DDR-Korrespondent Werner Brüssau schrieb im ZDF-Jahrbuch von 1989
über das, was auf den Tag genau vor 25 Jahren hier geschehen ist:
“Mit den großen Protestdemonstrationen am 7., 8. und 9. Oktober in Berlin, Leipzig und Dresden wurde die Revolution eingeleitet. Noch waren wir Journalisten unter der Knute des Staatssicherheitsdienstes. Besonders die akkreditierten Fernsehteams wurden verfolgt. Nur bruchstückhaft konnten wir von den Ereignissen berichten. Kameras wurden zerstört, gefilmtes Material beschlagnahmt. Nach Leipzig wurden wir überhaupt nicht mehr hineingelassen. Wo sich der größte Widerstand gegen den stalinistisch-sozialistischen Staat in gewaltigen Demonstrationen vieler Hunderttausender regte, in der ‘Heldenstadt Leipzig’, gelang es nur amerikanischen und britischen Kollegen, mit versteckter Kamera Bilder herauszuschmuggeln. Dass es in Leipzig nicht zu dem von Honecker und Mielke angeordneten Schießbefehl kam, der ein Blutbad angerichtet hätte, bedeutete das endgültige ‘Aus’ für die alte Ordnung.”
Das Zitat erinnert, an welch seidenem Faden all das hing, was manch einem längst wie selbstverständlich erscheint: dass wir uns heute hier an gleicher Stelle treffen können und offen über Freiheit sprechen dürfen: über die damalige Rolle der Medien auf dem Weg in die Freiheit und über unsere Rolle heute, wie wir das hohe Gut der Freiheit auch künftig bewahren, gerade auch mit Hilfe der Medien.
“Freiheit” ist ein offener Begriff:
Könnte man “Freiheit” begrifflich genau definieren, würde man sie bereits einschränken. Philosophisch verstanden, entsteht sie erst im konkreten Vollzug unseres Denkens und Handelns und definiert sich dabei quasi nur oder erst selbst. Greift man vorher zu, greift man vorbei. Das klingt nach rhetorischer Spitzfindigkeit, gehört aber zu einem offenen Begriff. Das soll uns nicht irritieren: Selbst der “Rundfunk” ist ja juristisch ein “dynamischer” Begriff, der sich im Zuge seiner rasanten technischen Veränderungen ständig mitverändert.
Um dennoch wenigstens eine Annäherung an die “Freiheit” zu finden, erinnere ich mal an das, was sie an der Wiege der Demokratie, sprich: in der griechischen Polis, bedeutet hatte: Der politische Freiheitsbegriff meint dort keine Anarchie, keine grenzenlose Möglichkeit, erst recht keine Beliebigkeit, sondern die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz. Freiheit ist also kein persönlicher Freifahrschein, sondern ein öffentliches Gut, das sich in Gemeinsamkeit wechselseitig auslotet. Der Gegensatz zu einem freien Menschen war daher nicht ein Sklave, sondern ein Ungleicher, jemand, der nicht aus der Polis stammt, sondern aus einer nicht-demokratischen Region, also ein Nicht-Grieche. So ist zu verstehen, dass etwa die Zeit-Journalistin Marion Gräfin Dönhoff bei ihren einstigen Reise-Reportagen über das “andere Deutschland” von einem fernen, fremden, entfremdeten, unzugänglichen, unbekannten Land gesprochen hatte. Eine nähere Kenntnis war denn auch schwierig: Die feste Hand des Sicherheitsdienstes hatte für die Journalisten im Westen nur ein sehr eingeschränktes, sagen wir ruhig: manipuliertes Bild der DDR zugelassen.
Es gibt keine politische Freiheit ohne die Freiheit der Medien:
Die Ostbürger waren umgekehrt durch die Westmedien anders informiert als durch die eigenen Medien. Die Bürger der DDR wussten insbesondere durch das Fernsehen, dass es jene Freiheit wirklich gibt, für die sie später auf die Straße gingen. Die Fernsehbilder waren eine Realität. Aus den Bildern des Westens wurde dann auch im Osten Wirklichkeit. Dabei geht es aber nicht nur um die Bilder von ausrückenden Trabi-Karawanen, die dann realiter weitere Karawanen generiert haben. Vielmehr handelt es sich um einen medialen Gesellschaftsprozess über Jahrzehnte hinweg. Dabei sind nicht nur Tag für Tag die neuesten Nachrichten von ARD und ZDF heimlich und unerlaubt in die östlichen Wohnzimmer buchstäblich “rübergekommen”; auch ein anderes Menschen- und Gesellschaftsbild, ein anderes Welt- und Lebensverständnis ist allmählich immer tiefer eingesickert ins gesellschaftspolitische Grundwasser. Selten zuvor war die Wirkkraft und Wirkmacht der Medien so konkret greifbar wie hier. Und sie hat den Mächtigen gezeigt: Kein noch so autoritäres System kann die Freiheit und Wahrheit dauerhaft unterdrücken. Freie Medien überwinden praktisch jede Grenze.
Die Freiheit der Medien ist ein demokratisches Grundrecht:
Die westlichen Kommunikationsfreiheiten – als da sind: Rundfunkfreiheit, Pressefreiheit, Informationsfreiheit, Meinungsfreiheit und Meinungsäußerungsfreiheit – waren und sind eine Lehre und Folge aus dem gleichgeschalteten Reichsrundfunk des Nationalsozialismus. Als demokratisches Grundrecht ist die Kommunikationsfreiheit bewusst ein liberales Abwehrrecht zum Schutz gegen einen Staatsfunk beziehungsweise gegen staatliche Eingriffe in die Rundfunkarbeit. So kam es nach dem Kriege in der jungen Bundesrepublik zum Modell eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks als elektronisches Gesellschaftsforum mit ausdrücklicher Staatsferne. Er stand im publizistischen Wettbewerb mit einer freien Presse, wie er dann später, durch die neuen technischen Möglichkeiten einer größeren Kanalfülle, im Dualen System der elektronischen Medien auch in den zusätzlichen Wettbewerb mit kommerziellen Programmanbietern eingetreten ist.
Entscheidend ist, dass für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk bei allen medialen Veränderungen dennoch Bestand und Entwicklung im Sinne des Grundrechtes weiter garantiert bleiben. Dass dies kein medienpolitischer Selbstläufer ist, sondern von Zeit zu Zeit nachjustiert werden muss, hat das jüngste Rundfunkurteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Besetzung der ZDF-Gremien gezeigt: Je mehr amtierende Politiker in einem Aufsichtsgremium, desto dringlicher stellt sich die Frage nach der tatsächlichen Staatsferne. Staatsferne musste auch in den westdeutschen Medien vor der Wende natürlich täglich erstritten und durchgesetzt werden, die gesellschaftliche Macht bevorzugte immer das positive, öffentliche Bild mehr als die kritische Betrachtung.
Aber: Der Anruf von Christian Wulff bei der Bild-Zeitung ist keine wirkliche Frage der Staatsferne oder -nähe: Hier hatte es sich nur um einen persönlichen Versuch der Einflussnahme gehandelt, ohne jede strukturelle, juristische Handhabe. Anders gesagt: Weder als Privatperson noch als Bundespräsident hätte Christian Wulff irgendeinen Chefredakteur zu irgendetwas zwingen können. Der Grad der Medienfreiheit hängt also immer auch davon ab, wieviel Unabhängigkeit sich der Journalismus im vorgegebenen Rahmen selbst bewahrt.
Die Rundfunk-Freiheit ist eine dienende Freiheit:
Die Medienpolitik gibt den Rahmen vor, innerhalb dessen sich die Programmanbieter autonom und frei bewegen können. Ihre Freiheit ist freilich keineswegs grenzenlos. Grenzen treten bereits dort auf, wo allgemeine Eingriffsgesetze zum Schutz anderer Grundrechte Anwendung finden, zum Beispiel beim Jugendschutz oder Persönlichkeitsrecht. Und Grenzen, oder sagen wir besser: Bindungen, sind natürlich von vornherein auch dadurch gegeben, dass die öffentlich-rechtlichen Sender einen Programmauftrag haben: Ihre Rundfunkfreiheit ist als “dienende Freiheit” ausdrücklich gebunden an den Gesellschaftsauftrag einer medialen Grundversorgung mit Information, Bildung, Unterhaltung und Kultur.
Insofern gibt es keine Medienfreiheit ohne gesellschaftliche Bindung, und das heißt: ohne publizistische Verantwortung. Aus ihr heraus bieten und bilden die Öffentlich-Rechtlichen ein Meinungsforum für das Gesellschaftsgespräch, ohne das eine offene demokratische Gesellschaft, zumal eine Mediendemokratie, nicht funktionieren kann. Das klingt – zugegeben – ein wenig staats-tragend, trägt allerdings auch den Staat, jedenfalls die Gesellschaft, wie wir seit dem Mauerfall wissen: Auf ein Gesamtbild der deutschen Wirklichkeit ausgerichtet und die Wiedervereinigung als Fernziel im Auge, hatten ARD und ZDF über viele Jahre und Jahrzehnte hinweg sicher keinen geringen Anteil an der Friedlichen Revolution.
Ohne Selbstüberschätzung und Selbstgefälligkeit kann man sagen: Die Wiedervereinigung war auch ein historischer Programmerfolg des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Er ist nicht zu messen an Quote und Attraktivität des Programms, sondern an seiner gesellschaftlichen Relevanz. Gewiss können auch kommerzielle Programme publizistisch relevant sein, doch sie können es nicht garantieren, da sie sich unter dem Strich ‘rechnen’ müssen. Hier aber stellt sich die Frage nach der Freiheit noch einmal von einer anderen Seite: Kommerzielle Sender haben zwar weit größere Programmfreiheiten dadurch, dass die Grundversorgung öffentlich-rechtlich abgedeckt ist, doch ihr wirtschaftlicher Druck zur Gewinnmaximierung kann unter Umständen mehr Abhängigkeit bedeuten, als sie von der Politik ausgehen könnte.
Im Übrigen wäre es, alleine vom Verkauf der Werbezeiten her, praktisch gar nicht denkbar gewesen, dass RTL oder SAT.1 im Zuge der Wiedervereinigung seinerzeit wie das ZDF an die 50 Sondersendungen geschaltet hätten. Und so heißt “Medienfreiheit” eben auch: größtmögliche journalistische Unabhängigkeit auch von anderen als politischen Faktoren, seien sie wirtschaftlich, technisch, kulturell, sozial oder am Ende dann auch persönlich und charakterlich.
Der medienpolitische Freiheitsrahmen ist inhaltlich mit Meinungsvielfalt zu füllen:
Die formal zunächst leere Freiheit braucht Inhalt: In ihrer Programmautonomie haben die Sender praktisch die Definitionshoheit, wie sie ihre Programmfreiheit konkret umsetzen. Das Programm ist, so gesehen, die dynamische Definition des Freiheitsbegriffes. Seine Ausgestaltung orientiert sich an der Maßgabe der Meinungsvielfalt im Dienste und Sinne einer freien Meinungsbildung. Gewiss kann dabei eine Sache auch einmal etwas einseitiger beleuchtet werden, aber unter dem Strich sollten sich Licht und Schatten dann doch ausgleichen – wie einstmals bei “Kennzeichen D” und dem “ZDF-Magazin” mit ihren unterschiedlichen parteipolitischen Färbungen. Unter diesem berühmten Strich geht es ja auch nicht primär um Parteien, also um “partes”, sondern buchstäblich “um’s Ganze”, Gemeinsame. Und es geht demnach auch nicht alleine um eine persönliche, individuelle, sondern vor allem um die öffentliche Meinungsbildung, und bei ihr nicht nur um ihre Bildung, sondern auch um den Abbau falscher Meinungen, unguter Stimmungen oder schädlicher Vorurteile, also – in der Sprache unseres heutigen Anlasses – um das Abtragen von Mauern oder Mauerresten.
Wie sich aber Meinungen auf allen Ebenen der Lebenswirklichkeit bilden können, müssen auch in der Programmvielfalt alle Register, alle vertretbaren Varianten an Formaten gezogen werden, von den “heute”-Nachrichten bis zur “heute-show”, nicht zu vergessen auch all die bewegenden Fernsehfilme über deutsch-deutsche Schicksale als eine andere, emotionalere Form einer auch psychologischen Meinungsbildung, die oft mehr bewegt als alle schönen Worte.
Freie Medien brauchen freie Journalisten als Meinungsbildner:
Freiheit kann man nicht vermitteln, ohne selbst frei zu sein. Eine größtmögliche journalistische Unabhängigkeit des Denkens und Handelns ist unverzichtbar. Dazu gehört auch eine größtmögliche Barrierefreiheit im Zugang zu Informationen. Bei einem Anlass wie heute, an einem Tag wie diesem zitiere ich noch einmal Werner Brüssau auf seiner damaligen Suche nach Quellen der Wahrheit in der DDR: “Es war schwer, Menschen für ein politisches Gespräch zu gewinnen. Und die führenden Kommunisten hielten sich von uns fern. Ich hatte immer den Eindruck, dass das Journalistenabkommen im Grundlagenvertrag für Ost-Berlin die dickste Kröte war, die sie hatten schlucken müssen. Vielen ‘Edel-Kommunisten’ waren wir regelrecht verhasst. Uns war jeder direkte Kontakt zu gesellschaftlichen und kommunistischen Stellen im Land untersagt. Verließen wir Ost-Berlin, so hatten wir uns 24 Stunden vorher abzumelden. Nur die Pressereferenten der Ministerien waren zu Auskünften berechtigt, und die waren – mit Ausnahmen – dürftig genug.”
Wegen der “Kröte” also die eingangs zitierte “Knute”. Und man sieht, wie sehr Journalisten auch diktatorische Betonköpfe ärgern, beschäftigen und am Ende vielleicht sogar ihrerseits beeinflussen können. In dieser journalistisch-investigativen Wirkkraft sind Medien kein unterhaltsamer Luxus, sondern konstitutiv für eine transparente Demokratie, die ihrem Namen auch gerecht wird. Entsprechend groß ist ihre publizistische Verantwortung im Dienst an der Sache, der “öffentlichen Sache”, der “res publica”. Von daher erübrigt sich der Hinweis, dass die heute grassierenden Personalisierungen im Kampagnen-Journalismus und in der Skandal-Berichterstattung von der eigentlichen Sache oftmals ablenken. Wenn es einer öffentlichen Empörungsmaschinerie mit all ihren moralisierenden Hypes und Shitstorms gelingt, selbst den ersten Bürger eines Landes zu Fall zu bringen, dann wird die – etwas problematische – These von den Medien als der “vierten Gewalt” (ich halte davon wenig) im Staate buchstäblich wahr.
Weit positiver wirkt die These allerdings, wenn man die Medienmacht als eine Art außerparlamentarischer Opposition mit kritischer Kontrolle des politischen Geschehens versteht; wenn Medien im Kampf gegen ein totalitäres Regime eine Gegenöffentlichkeit formieren; wenn Journalisten nicht nur als freiheitliche Vordenker wirken, sondern auch offen und öffentlich als Vorreiter agieren – wie unsere Preisträger heute als Mitstreiter der Friedlichen Revolution mit ihrem hohen persönlichen Einsatz für die Pressefreiheit in der damaligen DDR.
Journalisten werden notfalls zu Freiheitskämpfern:
Auch nach dem Mauerfall ist die Freiheit kein feststehendes, dauerhaftes Gut, sondern jederzeit und überall gefährdet, auch bei uns, aber erst recht in den totalitären Staatsformen unserer Tage. Hier kann unsere afghanische Preisträgerin Farida Nekzad mit ihrem länderübergreifenden Kampf um Pressefreiheit und Frauenrechte für all die anderen Regionen dieser Welt stehen, an denen niemand mit seiner Meinung auf die Straße zu gehen wagt.
Die aktuellen Missstände stimmen umso nachdenklicher, als die Meinungsfreiheit heute gerade auch in jener geopolitischen Region bedroht ist, die beim Mauerfall vor einem Vierteljahrhundert so einmalig günstig war. In Russland hat unter Putin eine Verschärfung des Demonstrationsrechtes, eine Reform des Parteiengesetzes und des Wahlrechts als Vorbereitung zur Einschränkung der Rundfunk- und Meinungsfreiheit stattgefunden.
In China werden Journalisten bei Haftstrafe gewarnt, keine unerwünschten Gedanken und böswilligen Gerüchte gegen das sozialistische Regime in die Welt zu setzen. Die Warnung richtet sich, in Verbindung mit einer großen “Firewall”, insbesondere gegen Blogger im Netz, wo neben den klassischen Medien ein neues Kampffeld um Meinungsfreiheit entstanden ist.
Im Irak wurden wir Zeugen, fast sogar Augenzeugen, von Hinrichtungen internationaler Journalisten durch die sunnitische Terrormiliz Islamischer Staat. Demonstrativer kann man der Weltöffentlichkeit nicht die eminente Schlüsselfunktion von Journalisten als den großen Multiplikatoren des globalen Zeitalters vor Augen führen. Sie bringen – fast – alles ans viel beschworene “Licht der Öffentlichkeit”. Den Rest schafft das Netz, wo das Licht niemals ausgeht. Heikel wird es allerdings bei der Frage, ob und inwieweit und unter welchen Umständen man die propagandistischen Bilder der Hinrichtung überhaupt der Weltöffentlichkeit zeigen darf: ob man sich damit nicht selbst zum Handlanger der Terroristen macht. Damit wären selbst scheinbar ‘freie’ Medien dann doch instrumentalisiert, fremd bestimmt, also ohne Freiheit.
Das sensible Beispiel lehrt, wie dialektisch die Freiheit der Medien gerade im Front-Journalismus umbrechen kann und wie freie Journalisten plötzlich dann doch unfrei werden. Und das Beispiel mahnt weiter, ob nicht nur die Freiheit allgemein, sondern auch die spezifische Pressefreiheit am Hindukusch verteidigt werden muss: Auch dort müsste die Wahrheit zur Sprache kommen, und sei es durch ausländische Journalisten, quasi durch eine importierte Medienfreiheit – allerdings möglichst nicht unter Lebensgefahr, bei der sich die Frage der journalistischen Verantwortung noch einmal ganz neu stellt.
Freie Medien brauchen auch freie Nutzer:
Alle Freiheitskämpfer kämpfen nur gegen Windmühlen, wenn das Volk nicht mitzieht: So werden die heutigen Preisträger ja stellvertretend für alle Mitdemonstranten der Friedlichen Revolution ausgezeichnet. Der beste Journalist nutzt nichts, wenn seine Botschaft nicht ankommt, wenn es keine freien Bürger gibt, die sich von ihm bewegen lassen. Insofern gilt: Je mehr Vielfalt im Angebot der Meinungen, desto größer die Chancen, auch bei den Zuschauern Interesse zu wecken. Das demokratische Programmziel sind keine zurückgelehnten, eingelullten Zuschauer, sondern aufgeklärte, sprich: selbst denkende, selbst handelnde, engagierte, mutige Bürger, die notfalls vielleicht auch einmal gegen den Strom schwimmen. Im Extremfall führt dies auf die Straße. Mediendemokratie bedeutet also nicht, dass alleine die Medien handeln, sondern dass sich in einem lebendigen Wechselverhältnis alle Bürger am gesellschaftlichen Leben beteiligen: “Wir sind ein Volk!”
Persönliche Meinungsfreiheit darf der öffentlichen nicht schaden:
Unsere Mediendemokratie hat sich im Zuge der Digitalen Revolution massiv gewandelt: Zum klassischen Rundfunk ist längst das Internet dazugekommen. Die Konvergenz zwischen Schirm und Netz ist voll im Gange. Durch weitere Zunahme der Internet-Nutzung verändert sich daher auch der “dynamische” Rundfunk, verändert sich aber auch unsere Mediengesellschaft. Entscheidend dabei ist: Die traditionelle, professionelle Massenkommunikation und die oftmals laienhaft spontane Individualkommunikation gehen teilweise unterschiedslos durcheinander, stehen praktisch gleichwertig nebeneinander.
All das geschieht nicht unbedingt zum Vorteil des Journalismus: Das Netz beschleunigt, erweitert oder verkürzt die Möglichkeiten der Recherche und Kontrolle und setzt damit alle Wahrheitssucher unter vehementen Aktualitätsdruck. Neben solche Fehlerquellen rückt ein immer schwierigeres Quellenstudium: Wer hat welche Nachricht von wem? Und wie ist die Verbreitung von persönlichen, spontanen, emotionalen Meinungen auf der einen Seite gegenüber substantiellen, fundierten, argumentativen Meinungen auf der anderen Seite vernünftig auseinanderzuhalten und sinnvoll zu gewichten? Wann verliert wer dabei den Überblick? Sind Überblick und Durchblick überhaupt noch gefragt? Oder ist es inzwischen nicht manchen Nutzern erwünschter, mit Nachrichtenleuten oder mit den handelnden Personen selbst – sogar mit dem Papst – persönlich zu twittern, statt sich eine nachrichtliche ‘Verkündigung’ anzuhören?
Ohne Zweifel wächst mit solcher neuen, unmittelbaren Meinungsfreiheit auch die Verantwortung der offiziellen Medien bzw. Journalisten als öffentliche Filter und Multiplikatoren im Dienste der eigentlichen Nachricht, eben der gemeinsamen öffentlichen Sache. Wo aber das Sachargument bei “Social Media” ersetzt wird durch ein allzu persönliches, willkürliches “Gefällt mir. Gefällt mir nicht.”, rückt das Ich vor das Wir. Das “Wir sind das Volk” rückt in den Hintergrund.
Die Zukunft der Freiheit ist keineswegs selbstverständlich:
Wir sind an einem Umschlagpunkt angekommen, an dem mit “Social Media” die grenzenlose Freiheit der Meinungen ihre Bindung verlieren kann, an dem auch der Ruf nach mehr Kontrolle wieder lauter wird. Dagegen stehen dann natürlich wieder Ängste vor zu viel Kontrolle, zu viel Vernetzung: Im Netz bleibt alles hängen, jeder hinterlässt jede Menge Spuren, gewollt oder ungewollt. Personenprofile, Käuferprofile, Gesellschaftsprofile über das “Global Positioning System” GPS oder etwa über “Payback” und andere Datenspeichersysteme wuchern auf allen operativen Ebenen. Praktisch jedes Handy verrät unsere ganzen Bewegungsabläufe und Verhaltensmuster. Und wenn es abgehört wird, verrät es sogar noch mehr. Keine Angst, ich leide nicht unter Verfolgungswahn und fürchte mich auch nicht vor “Big Brother”: Ich möchte nur daran erinnern, welche Unfreiheiten oder technischen Spitzelsysteme wir gläsernen, “transparenten” Menschen von heute bereits freiwillig akzeptieren und welche wir unfreiwillig dennoch in Kauf nehmen.
Noch einen Schritt weiter dürfen wir uns auch an Frank Schirrmacher erinnern, der seinem Buch “Payback” die Unterzeile gegeben hatte: “Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen.” Ich kann dieses diffizile intellektuelle Problem, wie die Technik zunehmend den Menschen beherrscht, wie sich auch unser eigenes Denken im Umgang mit technischer Intelligenz verändert, hier jetzt nicht weiter ausführen, es ist auch nicht unser Thema; doch es zeigt, wie wenig wir uns auch hier und heute und in Zukunft unserer Freiheit – und gerade auch unserer ganz persönlichen Freiheit – sicher sein können.
Bei allen Netzdaten geht es weniger um unsere Vergangenheit als ausdrücklich um unsere Zukunft – und die ist ja heute auch unser Thema. Alles, was über uns überall zigfach angesammelt wird, dient angeblich dem Ziel, mit dem Computer als ‘Orakelmaschine’ unsere Zukunft irgendwie konkreter vorherzusagen und gesellschaftliche Entwicklungen oder volkswirtschaftlichen Wettbewerb gewinnbringend zu steuern. Doch jede Steuerung kostet Freiheit. Fast ein wenig beruhigend dabei ist: So herausragende historische Ereignisse wie den Mauerfall, den 11. September oder die Finanzkrise hat uns kein technisches Gerät und auch kein menschliches Gehirn vorhersagen können.
Fazit: Unser Gesellschaftsauftrag geht weiter:
Nehmen wir das Mauerfall-Jubiläum nicht als Anlass, uns zufrieden zurückzulehnen, sondern als Impuls zu noch mehr Engagement und Wachsamkeit. Die Mauer ist zwar gefallen, aber andere Mauern stehen noch, auch Mauerreste in jedem von uns: ungeprüfte Meinungen, Wertungen, Urteile, Vorurteile, Ressentiments. Und auf der anderen Seite steht der Frieden nie mauerfest, wie die jüngsten Entwicklungen in Osteuropa zeigen. So wäre in der heutigen personalpolitischen Konstellation die deutsche Wiedervereinigung schwer denkbar gewesen. Umso bedauerlicher, als der russische Hauptakteur ja so viele Jahre hier in Sachsen gewirkt hat.
Es bleiben Fragen, und es kommen einem immer wieder neue Fragen: Wie einmalig ist Geschichte und wie sehr, wie schnell verändert sie sich? Wie kann es etwa sein – und das meine ich keineswegs vorwurfsvoll – dass hier in Sachsen bei der jüngsten Landtagswahl die Wahlbeteiligung von 49,2 Prozent sogar den bisherigen Negativrekord noch gebrochen hat? Wie kann es sein, dass sie in allen östlichen Bundesländern niedriger liegt als in den westlichen? Was ist aus den Demonstranten von damals heute geworden? Interessieren sich die Menschen in ganz Deutschland noch ausreichend für ihr Staatswesen?
Als Verantwortlicher für einen nationalen Fernsehsender muss ich mir natürlich auch selbst kritische Fragen stellen: Wird das Bild über politische Arbeit durchgehend negativ eingefärbt, sind wir mit Meinungen zu schnell öffentlich, bevor wir der Wahrheit auch nur nahe gekommen sind? Ist die mediale Welt zu sehr auf Personen, auf Köpfe reduziert, weil die Wirklichkeit erschreckend komplex gebaut ist?
Zum Freiheitsbegriff gehört auch die Verantwortung derjenigen, die das Privileg der Freiheit in ihrer Arbeit übergeben bekommen haben. Aber das wäre ein nächster Vortrag. Nicht heute Abend.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!