Bereits 2010 begann die Medienstiftung der Sparkasse Leipzig auf Vorschlag von Hans-Ulrich Jörges, dem Initiator der Europäischen Charta für Pressefreiheit und früherem Mitglied der Stern-Chefredaktion, das Projekt eines Europäischen Zentrums für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF) zu entwickeln. Die Stiftung begleitete und unterstützte die Gründung des Zentrums maßgeblich und war bis 2017 Projektträgerin. Im Folgejahr "entließ" die Medienstiftung das ECPMF in der Rechtsform einer europäischen Genossenschaft (SCE) in die Unabhängigkeit.
Europäisches Zentrum für Presse- und
Medienfreiheit
von Dr. Lutz Kinkel, Geschäftsführer des ECPMF
Es gibt Sätze, die mich berühren, die mich nicht mehr loslassen - und die mit ein paar Worten den Wert unserer Arbeit aufleuchten lassen. Einige hat jüngst Murat Bay gesagt, einer unserer "Journalist in Residence" 2019. Bay kommt aus der Türkei, seit zehn Jahren arbeitet er als Fotoreporter, fokussiert auf Straßenproteste und Aufstände, auf Gewalt und Krieg; er war im Gezi Park, in den Kurdengebieten, er richtet seine Augen auf das, was das Regime Erdogan verbergen will: die Risse im System. Wenn er seine Arbeit in der Türkei beschreibt, dann sagt er, es sei die "Hölle", weil Journalisten massiven Repressalien ausgesetzt sind. Und es sei der "Himmel", weil die Themen auf der Straße lägen.
Auch Murat Bay ist in der Türkei Bedrohungen ausgesetzt. 2019 war er in Leipzig für ein halbes Jahr, versorgt mit einer Wohnung, Krankenversicherung und einem Stipendium. Das alles umfasst unser "Journalists-in-Residence" Programm, mit dem wir verfolgten Medienschaffenden - zumindest zeitweilig - helfen können. Diese Hilfe kann buchstäblich lebensrettend sein, weil ein verzweifelter Mensch erstmals wieder Kraft und Hoffnung schöpft. Weil er wieder spürt, dass es ein Leben jenseits der Verfolgung gibt. Murat Bay sagte also diese Sätze, die mich nachdenklich machen und, ja, auch beschämen: "Vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben nehme ich den Frühling bewusst wahr, die Veränderungen, das Erwachen der Natur, die verschiedenen Farben und Blumen. In meinem Land ist alles grau, es ist voll mit Häusern und Wohnungen. Es tut so gut, das alles zu sehen. Nach drei Monaten Aufenthalt hier kann ich die Veränderung meiner Seele und meines Körpers spüren. Wenn ich wieder nachhause fahre - dann mit einem klaren Kopf."
Das Europäische Zentrum für Presse und Medienfreiheit (ECPMF), das ich leite, wurde ins Leben gerufen, um der Europäischen Charta für Pressefreiheit Geltung zu verschaffen. Hans-Ulrich Jörges, damals Mitglied der stern-Chefredaktion, hat die Charta 2009 initiiert, 48 Chefredakteure und leitende Redakteure aus 19 Staaten haben sie unterzeichnet. Die Europäische Kommission hat das Dokument entgegengenommen und begrüßt. Die Charta mit ihren zehn Artikeln - Sie finden den Text vollständig auf pressfreedom.eu - beschreibt den politischen Grundkonsens demokratischer Staaten. Vieles davon klingt selbstverständlich, zum Beispiel, dass Regierungen keine Zensur ausüben dürfen. Aber diese Freiheiten sind nicht selbstverständlich, sie müssen immer wieder und immer aufs Neue verteidigt werden. Nicht nur in der Türkei, sondern auch in Polen, Ungarn, Mazedonien, Serbien, Bulgarien, Tschechien und vielen anderen Ländern. Tatsächlich gibt es immer mehr Regierungen, die der Pressefreiheit an die Gurgel gehen. Spätestens seit der frühere US-Präsident Donald Trump Journalistinnen und Journalisten zu "Feinden des Volkes" erklärt hat, fühlen sich Populisten jedweder Couleur berechtigt, die freie Presse öffentlich zu verunglimpfen und zu unterdrücken. Damit gerät eine der Säulen der Demokratie ins Wanken.
Sitz des ECPMF ist Leipzig, die Stadt der Friedlichen Revolution 1989. Das ist der richtige Ort für ein Zentrum für die Pressefreiheit. Zehntausende erhoben sich damals gegen die DDR-Diktatur. Leipzig wurde "Heldenstadt" genannt; der Begriff "Leipziger Freiheit" wird noch heute für das Stadtmarketing genutzt. Glücklicherweise gab und gibt es hier auch Unternehmen, die sich diesem Erbe verpflichtet fühlen. Ohne die großzügige Anschubfinanzierung und die Projektentwicklung durch die Medienstiftung der Sparkasse Leipzig hätte das ECPMF die ersten Jahre nicht überstanden.
Politisch unterstützten die Gründung der damalige EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, sein Vize Alexander Graf Lambsdorff und Elmar Brok, seinerzeit Chef des Auswärtigen Ausschusses des EU-Parlaments. Darüber hinaus gewannen Jörges und der damalige ECPMF-Direktor eine ganze Reihe namhafter Journalisten für Vorstand und Aufsichtsrat. Zwei Jahre später, im Januar 2017, war die Gründungsphase auch formalrechtlich abgeschlossen: Das ECPMF ist seitdem eine Europäische Genossenschaft (SCE mbH). Die Kanzlei CMS Hasche Sigle hat den Prozess dankenswerterweise pro bono begleitet. Mitglieder der Genossenschaft sind Einzelpersonen und Organisationen, in der täglichen Arbeit kooperiert das ECPMF mit wichtigen Partnern aus der Medienfreiheits-Gemeinschaft wie dem International Press Institute (IPI), der Europäischen Journalisten-Gewerkschaft EFJ oder dem Osservatorio Balcani e Caucaso Transeuropa (OBCT) in Trento, Italien. Von Index on Censorship in London hat das ECPMF die Plattform mappingmediafreedom.eu übernommen, ein einzigartiges System, das Pressefreiheitsverletzungen in gesamt Europa dokumentiert. "Monitoring" heißt der Fachbegriff dafür - und Monitoring ist wichtig, weil das ECPMF mit Hilfe dieses Alarmsystems seine Aktivitäten steuern kann.
Grob gesagt teilt sich die Arbeit des Zentrums in zwei Teile auf: Kommunikation und praktische Hilfe. Das Journalists-in-Residence Programm gehört zur praktischen Hilfe. "Legal aid" - auf Deutsch: Rechtshilfe - ebenso. Das ECPMF unterstützt Journalistinnen und Journalisten, die in ihren Heimatländern unter fadenscheinigen Gründen vor Gericht gestellt werden, mit Beratung und zum Teil auch mit Geld. So ist es unserer Rechtsberaterin gelungen, bei der niederländischen Organisation Free Press Unlimited 50.000 Euro einzuwerben. Das Geld ging an die Familie der ermordeten maltesischen Investigativjournalistin und Bloggerin Daphne Caruana Galizia. Denn es laufen immer noch mehr als 30 (!) Verleumdungsklagen aus der politischen und wirtschaftlichen Elite gegen Daphne. Und wer geglaubt hat, mit ihrem Tod seien diese Klagen hinfällig, irrt: Ihre Familie wird in Sippenhaft genommen. Solche Verfahren sind in Europa leider keine Seltenheit, sie werden unter dem Begriff SLAPP (strategic litigation agains public participation) politisch diskutiert.
Das sind nur einige Aspekte aus unserer täglichen Arbeit. Da die Situation der Pressefreiheit in Europa nicht besser, sondern schlechter wird, werden unsere Schreibtische immer voller. Packen wir es an.
Weitere Informationen: www.ecpmf.eu