"Was sie nicht mehr losließ, war die Spaltung des Landes"

Erich-Loest-Preis 2023 an Ines Geipel verliehen.

Leipzig, der 24. Februar 2023. Die Autorin und Literaturwissenschaftlerin Ines Geipel ist am heutigen Abend - dem 97zigsten Geburtstag Erich Loests - mit dem Erich-Loest-Preis 2023 ausgezeichnet worden. Der von der Medienstiftung der Sparkasse Leipzig 2017 im Andenken an den 2013 verstorbenen Leipziger Schriftsteller und Ehrenbürger Erich Loest ins Leben gerufene Preis ist mit 10.000 Euro dotiert und wird aller zwei Jahre vergeben. Die inzwischen vierte Preisverleihung fand am Sitz der Stiftung am Mediencampus Villa Ida in Leipzig statt.

"Die Jurorinnen und Juroren kannten den Namensgeber unseres Preises - manche von ihnen wohl besser als viele andere", erklärte Dr. Harald Langenfeld, Vorstandsvorsitzender der Sparkasse Leipzig und der Medienstiftung: "Seinen Namen, seine Haltung und sein Andenken auch mit der Wahl der diesjährigen Preisträgerin lebendig zu halten, war ihr Ansinnen. Und mit der Wahl von Ines Geipel als Autorin mit literarisch wie gesellschaftspolitisch wichtiger Stimme in der intellektuellen Tradition Loests ist dies der Jury auch gelungen". In der Begründung der Jury unter Vorsitz von Andreas Platthaus, Chef des Ressorts Literatur und literarisches Leben der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, hatte es geheißen, Ines Geipel sei "eine engagierte Autorin, die sich im Bergwerk der literarischen Aufarbeitung mit der Wirkungsgeschichte zweier diktatorischer Systeme beschäftigt."

Die Preisträgerin dankte Stiftung und Jury. Bezugnehmend auf Erich Loest sagte sie: "Die Verzahnung von Nationalsozialismus und DDR-Diktatur bleibt das Basisbrot der deutschen Frage und Erich Loest als Mentor der doppelten Aufarbeitung eine Aufgabe. In der DDR wollte er den großen Roman über die Hitlerjugend schreiben. Es war sein Stoff und blieb eine Leerstelle. Nach 1989 wollte er den Opfern der DDR-Diktatur in Leipzig einen Ort geben. Das Bild an der Universität, für das er so lange gekämpft hatte, hat er Zeit seines Lebens nicht hängen sehen.[1] Erich Loests Vermächtnis ist unerlöst. Er starb wund. Sein Konflikt aber ist da, er drängt, er kann nicht verwartet werden."

[1] Dank des unermüdlichen Engagements von Linde Rotta, u. a. durch die Kostenübernahme, fand das Gemälde „Aufrecht stehen“ schlussendlich 2015 doch noch seinen Platz in der Universität.

In seiner Laudatio würdigte Lyriker und Essayist Durs Grünbein, wie Geipel zu DDR-Zeiten in Dresden geboren, die Preisträgerin: "Ich kenne kaum eine andere Autorin der Nachwendeliteratur, die ihren eigenen historischen Erfahrungsraum in ihren Studien so konsequent ausmisst (auch ausmistet), und dies aus persönlicher Anschauung. Kein abstrakter Ansatz ist das, kein bloßes journalistisches Interesse, die eigene, immer in Frage gestellte Lebenserfahrung, das Verdrängte und das Verleugnete daran, ist die Wurzel ihrer schriftstellerischen Unternehmungen." Ines Geipel eröffne einen "weiten Fächer von Schreibformen […]: Romane, Gedichte, Hörspiele, Berichte, Recherchen, Biografien und eine höchst eigenwillige Form der persönlichen Erzählprosa, man könnte sie den Reportage-Essay nennen." Sie biete dem Leser "ein breites Spektrum der Aufarbeitung von Geschichte und Geschichten" aus der DDR: "Was sie nicht mehr losließ, war die Spaltung des Landes, der historische, geografische Riss, von einer Tektonikverschiebung ist bei ihr die Rede."

Kritik an der Entscheidung der Jury, Ines Geipel mit dem Erich-Loest-Preis auszuzeichnen, wies Stephan Seeger, Geschäftsführender Vorstand der Medienstiftung, zurück: "Wir kennen Angriffe dieser Art aus mehr als 20 Jahren, in denen wir als Medienstiftung den Preis für die Freiheit und Zukunft der Medien verleihen. Oft genug entlarven sich die Kritiker mit der Art ihrer Kritik selbst. Noch nie hat diese Kritik dazu geführt, eine Jury-Entscheidung zu revidieren. Und auch dieses Mal danken wir der Jury ausdrücklich für ihre ausgezeichnete Wahl."

Zur Jury:

  • Andreas Platthaus (Juryvorsitz; Chef des Ressorts Literatur und literarisches Leben der Frankfurter Allgemeinen Zeitung)
  • Linde Rotta (freie Schriftstellerin)
  • Werner Schulz (ehemaliges Mitglied des Deutschen Bundestages und des Europäischen Parlaments für Bündnis 90/Grüne, verstorben am 9. November 2022)
  • Dr. Katrin Schumacher (Redaktionsleiterin Literatur, Film, Bühne bei MDR Kultur)
  • Prof. Dr. Jobst Welge (Professor für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Leipzig)

Zur Preisträgerin:

Ines Geipel, geboren 1960 in Dresden, ist Schriftstellerin und Professorin für Verskunst an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch". Sie floh 1989 nach ihrem Germanistik-Studium in Jena nach Westdeutschland und studierte in Darmstadt Philosophie und Soziologie. 1996 kam ihr erstes Buch heraus.

Das zentrale Thema ihres literarischen Werks ist die deutsche Gewaltgeschichte sowohl des Nationalsozialismus als auch der DDR-Diktatur. In diesem Kontext stehen Romane wie "Das Heft" (1999) und "Tochter des Diktators" (2017), ihre Essays wie beispielsweise "Generation Mauer. Ein Porträt" (2015) und "Schöner Neuer Himmel. Aus dem Militärlabor des Ostens" (2022) sowie ihre literarischen Reportagen "Verlorene Spiele. Journal eines Dopingprozesses" (2001) oder "Seelenriss" (2010), die vielfach öffentliche Debatten angeregt haben. Seit 2005 hat sie zusammen mit Joachim Walther die "Verschwiegene Bibliothek" herausgegeben, eine auf zehn Bände angelegte Edition von AutorInnen und Texten, die in der DDR nicht erscheinen durften. Für ihre Werke, aber ebenso ihr gesellschaftliches Engagement wurde Geipel mehrfach ausgezeichnet, so zum Beispiel 2011 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande, dem "Lessingpreis für Kritik" 2020 und mit dem "Marieluise-Fleißer-Preis" 2021.

Zum Preis:

Der mit 10.000 Euro dotierte Preis wird von der Medienstiftung der Sparkasse Leipzig im Andenken an den Schriftsteller Erich Loest alle zwei Jahre vergeben. Erich Loest war den Stiftungen der Sparkasse zeitlebens eng verbunden - als Gründungsmitglied der Medienstiftung und als Mäzen der Kultur- und Umweltstiftung, der er seinen literarischen Nachlass übereignete. Der Preis würdigt Autoren, die die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Deutschland nicht nur beschreiben, sondern mit ihrer Stimme den demokratischen Diskurs mitgestalten. Zudem sollen die Preisträger dem mitteldeutschen Raum verbunden sein. Bisherige Preisträger waren Guntram Vesper (2017), Hans Joachim Schädlich (2019) und Ulrike Almut Sandig (2021).

Aufzeichnung der Preisverleihung

Berichterstattung

Laudatio, Gruß- und Dankesworte

Impressionen


Preisträger:
2023 - Erich-Loest-Preis