Thomas Leif im Gespräch mit Seymour Hersh
Während des "Leipziger Medienkongresses" 2010 sprach SWR-Chefreporter Thomas Leif mit Seymour Hersh, u. a. Träger des von der Medienstiftung ausgelobten "Preises für die Freiheit und Zukunft der Medien", über die wichtigsten Fehler der Journalisten, die Probleme des Online-Business und die Bedrohungen durch die Public-Relations-Industrie.
Leif: Kritische Stories bringen meist Konflikte mit sich. Wie gehen Sie vor der Veröffentlichung mit den Betroffenen um?
Hersh: Weil ich älter und erfahrener bin, versuche ich heute nie, etwas zu verdrehen. Wenn die Veröffentlichung einer Geschichte schlecht für meinen Gesprächspartner sein wird, sage ich es ihm. Wenn sie bitter für ihn sein wird, sage ich es ihm. Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich das gemacht habe, als ich jünger war.
Auf lange Sicht ist es besser, ehrlich zu bleiben. Nehmen wir folgenden Fall an: Ich schreibe eine Geschichte und sie wird in zwei Tagen herauskommen. Die Person, mit der ich gesprochen habe, denkt vielleicht, ihr werde die Story gefallen - aber das wird sie nicht. Dann rufe ich denjenigen an und sage: "Sie werden meine Geschichte nicht mögen. Ich möchte nur, dass Sie das wissen, Sie werden sie nicht mögen." Manchmal schreien mich die Leute dann an. Aber auf lange Sicht ist es gut, so vorzugehen. Es ist besser, als es sich zu einfach zu machen und zu denken, die werden den Text nicht mögen und schreibe ihn trotzdem. Ich lasse die Leute gerne wissen, was sie erwartet.
Leif: Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Fehler, die Journalisten immer wieder machen?
Hersh: Ach, Vermutungen, immer Vermutungen. Sie glauben nicht, wie viele Vermutungen oder Unterstellungen einfach so angenommen werden. Journalisten nehmen an, etwas sei die Wahrheit oder dass ihnen jemand die Wahrheit erzähle. Diese Unterstellungen sind das größte Problem. Es steckt mehr dahinter, als nur kritisch und skeptisch zu sein. Sie können nämlich hinterfragen und skeptisch sein - und doch immer nur einer Vermutung folgen. Außerdem: Wenn du eine gute Geschichte hast, dann lässt du sie sich selbst erzählen. Du musst sie nicht noch zuspitzen. Du musst die Dramatik oder die Sensation nicht extra hervorheben, wenn sie schon drinsteht. Die größte Schwierigkeit bei einer komplizierten Geschichte ist, sie einfach zu erzählen. Ich meine nicht simpel oder nur mit kurzen Sätzen, sondern eindeutig und sauber. Das kann sehr schwer sein.
Manchmal versuchen Journalisten eine harte Geschichte schön zu schreiben, mit einem schicken Einstieg. Beim New Yorker, wo ich heute arbeite, gibt es immer Reibereien, weil sie keine direkten Geschichten mögen. Sie wollen, dass du mit einem historischen Ereignis beginnst. Also habe ich dort in meiner Zeit als festangestellter Mitarbeiter jede Geschichte mit der Invasion in der Normandie angefangen - ich habe mir einen Scherz erlaubt.
Aber in einem Punkt haben sie Recht. Wenn du eine lange Geschichte schreibst, musst du etwas finden, das den Charakter der Geschichte widerspiegelt. Auch das ist kompliziert. Tatsachengeschichten zu schreiben, ist schwer. Die Menschen bewundern Schriftsteller für ihre erfundenen Romane, aber ich glaube, einige der bestgeschriebenen Texte sind Tatsachentexte. Ich lese englische Übersetzungen der Artikel des Spiegels, das sind gute lange Stücke - mit Anfang, Mitte und Ende.
"Heute sind einige Journalisten nicht so qualifiziert, wie es ihre Vorgänger früher einmal waren."
Leif: Eindeutig und sauber zu arbeiten ist schwer. Glauben Sie, dass diese Grundhaltung amerikanischer Journalisten heute prägt?
Hersh: Das ist schwer zu verallgemeinern. Meine alte Zeitung, die New York Times, macht gute Arbeit. Die Washington Post veröffentlichte kürzlich eine lange Geschichte über der Zahl der Organisationen und Unternehmen, die im Bereich der "Inneren Sicherheit" und der Geheimdienste aktiv sind. Die war sauber, gut und mit vielen Grafiken ausgestattet. Heute ist alles Multimedia, selbst die großen Storys haben heute den Hinweis: "Gehen Sie auf www.nytimes.com und dort Sie finden jedes Interview." Alles ist Multimedia. Das hat einige Vorteile. Man kann die langen Interviews, die man geführt hat, online stellen. Mein Problem ist jedoch das hochwertige Schreiben. Davon gibt es nicht genug und nicht jeder kann es. Um ehrlich zu sein, habe ich auch das Gefühl, heute sind einige Journalisten nicht so qualifiziert, wie es ihre Vorgänger früher einmal waren. Aber ältere Menschen glauben ja immer, dass die Dinge nicht mehr das sind, was sie einmal waren.
Leif: Manche Insider sagen, der "Online-Journalismus wird überschätzt": es gäbe zu wenig eigenständig recherchierte Geschichten in den Online-Medien. Wie schätzen Sie die Lage in den USA ein?
Hersh: Ich spreche seit 15 Jahren mit Kollegen darüber, investigativen Journalismus online zu betreiben. Investigative Journalisten verbringen zwei Monate für eine Recherche, sie fliegen um die Welt und investieren vielleicht 100.000 Dollar in eine Geschichte. Sie brauchen Geld und niemand hat bis jetzt herausgefunden, wie Online-Journalismus investigative Recherche finanzieren soll. Das ist heute das große Problem des Online-Business. Ich bin sicher, sie werden es lösen, ich weiß aber nicht wie. Es ist ein Finanzierungsproblem.
In Deutschland wird mit Abonnements noch mehr Geld über die Auflage verdient, in Amerika ist das nur ein kleiner Anteil. Also leiden die Unternehmen dort, sie stellen nicht mehr ein, lassen Leute ziehen. Sie veröffentlichen zwar noch immer investigative Geschichten, aber immer weniger. Die Journalisten bekommen nicht mehr die Zeit, weil sie Geld kostet. Das Personal wird für andere Dinge gebraucht.
Leif: Ohne die Wissensspeicher von Informanten gibt es keine "Investigation". Wie gelingt es Ihnen, wichtige Informanten zu öffnen?
Hersh: Eine Möglichkeit ist, ihnen etwas Neues zu erzählen. Das hilft, wenn man anruft. Man muss dieses erste Stückchen Information haben, auch wenn es schwer zu bekommen ist. Wenn du etwas hast, das niemand weiß oder wissen sollte, kommst du ins Gespräch.
Ich habe heute in einem Buch eines ehemaligen Regierungsanwalts gelesen. Er beschreibt darin, wie er reagierte, wenn ein Journalist mit einem sensiblen Thema zu ihm kam. Er hat nicht die Wahrheit gesagt. Er schreibt: "Ich habe gelogen. Ich habe gesagt, ich weiß nicht, wovon sie reden. Dann bin ich zu meinem Boss gegangen und habe ihm gesagt, der weiß was, pass auf ihn auf." Aber wenn man ein Körnchen Wahrheit findet, etwas Wichtiges, dann kann das wie ein Dosenöffner wirken.
Eine weitere Erfahrung aus meinem Karriereweg: Wenn man mit Leuten weit oben in der Regierung spricht - die meisten Reporter treffen sich mit den Beratern für nationale Sicherheit oder dem Außenminister und wollen etwas, ein Interview usw. - , sage ich oft: "Bevor wir reden, lassen Sie mich erzählen, was ich kürzlich gehört habe." Ich gebe ihnen etwas, das kann auch mal Klatsch sein, aber es unterscheidet mich von den anderen.
In Amerika ist es doch so: Mancher kommt von einer Bank oder einem Konzern in den hohen Regierungsjob. Letztes Jahr hat er also 90 Millionen Dollar verdient, dieses Jahr sind es 200.000 Dollar. Warum macht er das? Ganz einfach, weil er wichtig sein und Geheimnisse kennen will. Nun arbeitet dieser Beamte also im Weißen Haus oder im Finanzministerium und weiß all diese wunderbaren Dinge. Dann kommt der ahnungslose Reporter und der weiß etwas, was der Beamte noch nicht weiß. Häufig reagiert er dann so: "Wenn Sie glauben, Ihre Info sei wichtig, hören Sie sich mal das hier an…"
Leif: Sie setzen also auf einen Austausch von Informationen?
Hersh: Na ja, eher auf einen Handel. Manche Kollegen sagen: du erzählst nie einer Quelle etwas, was sie nicht unbedingt wissen muss. Ich sage: du bekommst nichts, ohne auch zu geben. Du erzählst denen, was du machst und weißt. Aber heute ist das auch leicht für mich, weil ich mir in den vergangenen 35 Jahren Informanten aufgebaut habe, die ich viele Jahre kenne. Wenn ich zu denen mit etwas Wichtigem komme und sie nicht darüber reden können, dann sagen sie das, bevor ich richtig loslege. Aber manche sagen: "Du liegst nicht ganz richtig, ich würde mir mal diese Sache hier anschauen." Tatsächlich versuchst du ja auch nicht permanent, etwas Geheimes zu erfahren und zu drucken. Es ist vielmehr so, dass du nach etwas Geheimem und zugleich Schlechtem suchst.
Ich bin Amerikaner, wenn meine Regierung etwas Kluges macht - zum Beispiel herausfinden, was Al-Qaida tut - werde ich nicht dazwischenfunken. Ich bin nicht prinzipiell dagegen. Ich bin nur dagegen, dumme und kriminelle Dinge zu tun. Ich bin dagegen, Menschen in Gefängnisse wie Guantanamo zu stecken, weil Amerika immer als vernünftiges und ehrenwertes Land wahrgenommen wurde und wir nun unseren Ruf zerstört haben.
"Obama mag ein anständiger Mann sein, ich halte ihn für ehrenhaft, aber er ist auch ein Politiker."
Leif: Wie sind Ihre Erfahrungen mit Informanten aus der zweiten Reihe, ich meine nicht die Minister?
Hersh: Die dritte Reihe ist manchmal wichtig. Die erste Reihe hilft oft nicht weiter.
Leif: Warum?
Hersh: Weil sie die Dinge schönreden. Das Einzige, woran sie interessiert sind, ist dir eine Geschichte zu verkaufen, die du so erzählen sollst, wie sie es sich wünschen. Etagen tiefer, in der zweiten oder dritten Reihe, finden sich manchmal Menschen, die tatsächlich an der Wahrheit interessiert sind. Aber die Leute an der Spitze der Regierung, come on...
Da wurde kürzlich ein Bericht veröffentlicht, dass die Obama-Regierung bei der Ölpest im Golf von Mexiko nicht gut reagiert hat, dass sie Informationen verdreht hat. Oh mein Gott, was waren sie aufgeregt, das alles zurückzuweisen. Natürlich sind sie aufgeregt. Regierungen sind so. Und Obama mag ein anständiger Mann sein, ich halte ihn für ehrenhaft, aber auch er ist ein Politiker.
Leif: Arbeiten Sie auch mit den Geheimdiensten? Sind sie manchmal nützlich?
Hersh: Natürlich. Ich kontaktiere ihn aber nicht offiziell, indem ich etwa eine Notiz an den Chef der CIA oder dessen Pressereferenten schreibe und um ein Briefing oder Treffen bitte. Das mache ich nicht mehr, weil ich es nicht nützlich finde.
Leif: Was machen Sie dann? In welchen Situationen nutzen Sie den Geheimdienst?
Hersh: Ich finde Leute, die genug wissen, und treffe sie informell. Du findest Gesprächspartner, wenn du zu jemandem in der CIA gehst, der ein Experte, aber kein Faulpelz ist. Du suchst einen ehrlichen und ehrbaren Analysten. Dann sagst du ihm offen: "Ich möchte wissen, wie der letzte Stand in einer Angelegenheit ist, aber kein Briefing besuchen, weil dort so viel verdreht wird."
Leif: Wie überprüfen Sie diese Informationen vom Geheimdienst?
Hersh: Da musst du dich anstrengen, das ist fürchterlich. Einige mögen mich, weil sie wissen, ich habe viele Informanten. Nicht unendlich viele, aber mehr als die meisten. Und wenn ich jetzt eine Geschichte schreibe und genügend Infos habe, dann ist der eine Informant nicht verdächtig, weil ich die Informationen von einem zweiten erhalten haben könnte, selbst wenn die Behörden das prüften.
Wenn ich eine sensible Geschichte schreibe, wie zum Beispiel über Nuklearwaffen in Pakistan und wie Amerika damit umgeht, macht das die Regierung verrückt. Also prüfen sie mögliche Informanten und finden heraus: Der hat es gewusst, aber er hat etwas anderes nicht gewusst, was der Hersh geschrieben hat. Also folgern sie, er kann nicht die Quelle sein. Wenn du drei oder vier verschiedenen Informanten hast, die dir Geheimnisse verraten, und du alle diese Informationen im Text verwendest, ohne die Namen der Quellen zu nennen, verwirrst du die Verfolger. Sie können nicht herausfinden, wer es dir letztlich gesteckt hat.
Aber sie suchen. So etwas ist nie öffentlich, aber den meisten Ärger hatte ich, als Bush Präsident und Cheney Vize-Präsident waren. Sie haben nachgeforscht, wer mit mir gesprochen hat, und sie haben bestimmte Leute bestraft. Dabei haben sie aber immer die falsche Person erwischt, immer!
Leif: Wenn Sie die vergangenen Berufsjahre Revue passieren lassen: welche Personen sind die besten Quellen? Sind es die Leute in der dritten Reihe?
Hersh: Es gibt immer einen General, der zwei Sterne hat und gerne drei oder vier hätte, aber er wird mit zwei Sternen pensioniert. Der ist gut. Wenn er pensioniert wird, gib ihm einen Monat Langeweile und dann sprich mit ihm. Er wird Informationen haben. In Konzernen gibt es immer jemanden, der einen wichtigen Job will und ihn an einen Konkurrenten verliert. Er wird dir erzählen, warum der andere ein Ekel ist und den Job trotzdem bekommen hat. Das ist keine schöne Aufgabe, aber da ist immer einer, der gerade das Unternehmen verlassen hat oder gefeuert wurde. Es gibt immer eine Ex-Frau, wenn du wirklich verzweifelt bist. Das mag ich zwar überhaupt nicht, aber ich kenne Kollegen die so an Informationen gekommen sind. So ist das in der Geschäftswelt.
In der Geheimdienstwelt gibt es immer Leute, die in Ruhestand gehen. Wenn du etwa ein Viersterne-General im Kommando bist und du gehst in Ruhestand, sechs Monate später weißt du immer noch viel, weil deine Nachfolger weiter mit dir sprechen, um dich um Rat zu fragen. Damit kommt man weit. Ich hatte vor kurzem ein fantastisches Interview mit Musharraf in London. Er erzählte viel, weil unser Treffen außerhalb seines Büros stattfand und ihm ein paar Dinge auf der Seele lagen.
Bob Woodward geht und trifft den Präsident und er ist sehr akkurat damit. Ich habe keine Beschwerden über ihn, er ist sehr präzise, ein sehr ehrenwerter Mann. Aber ich bevorzuge etwas tiefer anzusetzen.
Leif: Welche Erfahrungen haben Sie mit anonymen Quellen?
Hersh: Die muss man haben. Wenn jemand in einem sensiblen Bereich arbeitet, droht ihm Gefängnis. In Amerika haben wir fantastische Freiheiten, keine Zensur. Es ist die Aufgabe der Regierung das Geheime zu bewahren. Wenn ich ein großes Geheimnis erfahre, ist das nicht mein Problem, es ist ihr Problem. Dabei kann ich immer entscheiden, es zu veröffentlichen oder nicht.
Leif: Und wie beurteilen Sie die Qualität von anonymen Quellen?
Hersh: Du kannst nicht ohne sie. Aber beim New Yorker geben sie Unsummen - wirklich ungewöhnlich viel Geld - für Factchecker aus. Das sind 15 bis 20 Leute. Sie kosten viel Geld, aber sie machen das Magazin besser. Meinen anonymen Quellen habe ich über die Jahre erklärt, dass ich nichts verwenden kann, es sei denn, sie sprechen separat noch einmal mit einem unserer Factchecker. Also organisiere ich den Anruf des Factcheckers, welche Zeit, welche Nummer, manchmal nutzen wir eine öffentliche Telefonzelle, wenn die Sache sehr sensibel ist. Einige Leute sprechen nur zu Hause mit mir. In einigen Fällen fliegt ein Factchecker nach Washington. Ich bringe ihn zu den Leuten und gehe dann, so dass sie in Ruhe reden können.
Leif: Mögen Sie die Factchecker, denen Sie den Kontakt zu den wichtigsten Informanten ermöglichen müssen?
Hersh: Ja, sie können mächtig nerven, aber sie sind eine große Hilfe. Ich habe etwas Erstaunliches beobachtet: Jemand im Inneren der Dienste, ein Techniker, wird dem Factchecker mehr erklären als mir, weil er glaubt, ich würde etwas von der Materie verstehen, was ich aber nicht unbedingt tue. Ein Encrypter zum Beispiel erklärt dem Factchecker ausführlicher als mir, wie das Codiersystem funktioniert. Die Factchecker sind gut, sie machen Notizen. Ich nehme oft Details von ihnen und nutze sie für die Story.
"Du musst dranbleiben, den letzten Anruf machen, immer dranbleiben."
Leif: Kann ein guter investigativer Journalist annähernd jedes Ziel erreichen, wenn man nur hart arbeitet? Ist die Intensität der Recherchearbeit das wichtigste Erfolgskriterium?
Hersh: Du musst dranbleiben, den letzten Anruf machen, immer dranbleiben. Das ist schwer. Manchmal fühle ich mich wie ein Fundraiser oder ein Geldeintreiber für eine gemeinnützige Organisation.
Leif: Fundraiser - ist diese gelegentlich penetrant auftretene Profession vergleichbar mit Journalismus?
Hersh: Die Leute sind immer schnell dabei zu sagen, mit ihnen spreche ich nicht. Ich glaube nicht daran, Leute zu Hause aufzusuchen und an ihre Türen zu klopfen. Einige Kollegen sagen, sie machen das, aber ich finde das anstößig. Anders ist es in folgendem Fall: Ich habe kürzlich an einem Sonnabend jemanden "Drinnen" angerufen. Er sagte: "Komm vorbei." Ich antwortete: "In einer Stunde bin ich da." Und er sagte: "Fein." Meine Frau war etwas sauer, aber es war ein wichtiger Typ und er war einverstanden, mich zu sehen. Außerdem: Sie mögen es, wenn du sagst: "Ich bin gleich da." Sie sehen, du arbeitest hart.
Es kann aber nicht oft genug betont werden: Es ist wichtiger, dass du mehrere verschiedene Quellen hast und sie verteidigst.
Leif: Sie haben Quellen, Material, Dokumente - was braucht man zusätzlich noch für eine erstklassige Geschichte? Welche Bedeutung haben Fantasie und Kombinationsfähigkeit?
Hersh: Manchmal hast du vier oder fünf Fakten und du schreibst eine Story und plötzlich verstehst du etwas. Es passiert nicht oft, dass du völlig überraschend feststellst, oh mein Gott, jetzt versteh ich die Hintergründe und dann legst du das Puzzle Stück für Stück zusammen.
Leif: Man braucht eine Art emotionale Intelligenz?
Hersh: Ja und es ist faszinierend, wenn das passiert.
Leif: Wie behandeln sie die Informanten? Georg Mascolo vom Spiegel soll im Team die Rolle des so genannten "idealen Schwiegersohn", gespielt haben?
Hersh: Nicht nur das, er ist ein sehr sozialer Typ. Er gibt viele Feiern in seinem Haus und er lädt die Regierungsleute oder die BND-Leute von der Botschaft ein. Er ist sehr freundlich, warm und er geht aus sich heraus.
Leif: Was sollten junge Journalistinnen und Journalisten lernen, die investigativ arbeiten wollen?
Hersh: Sie sollten wissen, dass sie am Anfang beginnen müssen, und nicht gleich als investigativer Journalist starten. Sie müssen lernen zu schreiben, vorsichtig und gründlich zu sein. Wenn du Talent hast, dann begegnet dir schnell dieser schöne Moment, eine Geschichte zusammenzusetzen, die kein anderer kennt. Das ist das Wichtige, etwas zusammenzusetzen, das niemand anderes kennt. So findet man Spaß und Ruhm. Aber du musst klein anfangen, du schreibst Portraits von Leuten, Features, du machst die klassische Zeitungsarbeit. Du lernst, zu schreiben, du lernst, deine Talente einzusetzen. Sei akkurat und dann wirst du sehen: Manche Kollegen verbringen ihr ganzes leben als Stenografen oder Sekretäre. Sie hören den Präsidenten, schreiben auf, was er sagt, und sind glücklich damit. Andere sagen, ich will mehr. Das hat auch was mit Intelligenz zu tun. Ich glaube, die klugen Journalisten wollen mehr als nur Statements aufschreiben.
Leif: Ist die Public-Relation-Industrie eine Gefahr für den Journalimus?
Hersh: Ja, wissen Sie, wer davor früh gewarnt hat? Walter Lippmann, der berühmte amerikanische Journalist. Er hat 1924 in einem Buch geschrieben: Seid vorsichtig mit der Public Relation. Sie verdrehen alles, sie verführen einen leicht zu einer anderen Realität. Ja, sie sind eine echte Gefahr, vor allem, weil sie langsam so gut werden. Ein Verhalten, das die Public-Relations-Offiziellen ihren Kunden beibringen, lautet beispielsweise: Sagt nichts.
Leif: Sind die PR-Spezialisten stärker und professioneller als Journalisten?
Hersh: Ja, manchmal sind sie viel besser, weil viele gute Journalisten in der Wirtschaftskrise das gemacht haben, was sie vorher nie gedacht hätten. Sie haben einen dieser gut bezahlten Jobs angenommen. Es gibt diese Gefahr. Es ist mittlerweile eine Kunst geworden, Nachrichten zu verdrehen und zu verpacken. Das ist erschreckend.
"Wir sind keine Cheerleader für unsere Regierungen."
Leif: Wie sollten die Medien reagieren?
Hersh: Das große Problem ist, das Zeitungen und Fernsehen das Gleiche falsch machen: Sie befördern die Leute, die sie kontrollieren sollten. Wir könnten 70 Prozent der Redakteure in Amerika - in Deutschland ist es wahrscheinlich besser - feuern. Die Leute, denen die Druckmaschinen gehören, befördern nicht die Leute, die sie befördern sollten. Oft gibt es in den oberen Etagen nette Mitarbeiter, aber das sind nicht die richtigen. Sie sind nicht aggressiv. In meiner Karriere ist mir oft passiert, dass Kollegen nach einer Weile müde von mir wurden, weil ich immer sagte, dies ist nicht gut und das hier auch nicht. Weil ich oft negativ bin und die dunkle Seite suche, werden sie davon müde. Nur sehr selten findet man einen starken investigativen Mann, der Chefredakteur oder leitender Redakteur (Editor) wird. Die London Times hatte einmal eine Abteilung, "The Inside Team", das ist 20 bis 30 Jahre her. Ende 1960er hatten sie dieses spezielle Teams aufgestellt. Sechs Reporter haben ausschließlich investigativ gearbeitet. Sie schrieben gute Texte zum Beispiel über den Krieg in Vietnam. Und sie hatten einen fantastischen leitenden Redakteur. Aber heute will niemand mehr so viel Einfluss und Macht aus der Hand geben.
Leif: Was ist die politische Essenz Ihres journalistischen Lebens?
Hersh: Vertraue niemals den Leuten im öffentlichen Leben, das ist nicht unser Job. Wir sind keine Cheerleader für unsere Regierungen. Nach 9/11 waren Reporter in den USA zu sehr mit Applaudieren beschäftigt, anstatt skeptisch gegenüber George Bush und seinen Behauptungen zu Bomben im Irak zu sein. Amerika zuerst, hieß es bei ihnen, wir wollen Rache - da haben wir unsere Seele verloren. Die Bush-Regierung hat im grossen Stil moralisch versagt.
Leif: Was treibt Sie an?
Hersh: Ich mag Geschichten. Ich hasse Lügen und ich liebe Geschichten. Ich liebe es, Geschichten zu erzählen, die noch keiner kennt.
Leif: Herzlichen Dank für das Gespräch.
(Übersetzung: Lars-Marten Nagel)
Die Stiftung dankt Thomas Leif für die Genehmigung zur Veröffentlichung des Interviews auf der Website der Stiftung.