Wer gewinnt denn, Herr Roth?
Fünf Tage vor der Bürgerschaftswahl in Bremen - Ein Sommergespräch mit Dieter Roth, Leiter der Forschungsgruppe Wahlen.
von Christian Mörsch
Samstag ist ein heiliger Tag für Dieter Roth. Zeit für die Familie, Zeit sich zu erholen. Diesmal nicht. "Der nächste Samstag ist ein ganz normaler Vorwahltag", sagt er - Bremen wählt seine Bürgerschaft und Dieter Roth liefert mit seiner Forschungsgruppe Wahlen die Grundlage für die Wahlberichterstattung des ZDF Politbarometer. Wie ein ganz normaler Vorwahltag aussieht? Roth und sein Team machen sich anhand von Umfragen ein letztes Bild der politischen Stimmung in Bremen. Mit den Daten versuchen die Wissenschaftler nach der Wahl den Zuschauern zu erklären, wie das Wahlergebnis zustande gekommen ist, wer wen gewählt hat und warum. Dann wird ein enger Zirkel ZDF-Journalisten in das erwartete Wahlergebnis eingeweiht. "Von da an beantworten wir nach außen keine Fragen mehr", sagt Roth.
Jetzt sitzt Dieter Roth in einem Salon der Villa Ida in Leipzig, ist umgeben von Journalisten, Studenten, Professoren und beantwortet Fragen. Es ist Dienstagabend - noch fünf Tage bis zur ersten Hochrechnung. Der Fachschaftsrat KMW/Journalistik der Universität Leipzig und die Medienstiftung der Sparkasse Leipzig haben ihn zu einem Gesprächsabend eingeladen. "Wer gewinnt denn, Herr Roth?", fragt die Moderatorin des Abends frech. Roth kennt diese Frage nur zu genau, lacht kurz auf und umgeht sie dann: "Die niedrige Begeisterung wird sich wohl in niedriger Wahlbeteiligung ausdrücken." Spekulationen sind von diesem Mann nicht zu erwarten. Stattdessen erläutert er die Methoden und Probleme der Demoskopie. "Umfragen zum Beispiel haben Fehlerbereiche und die sind nicht klein", sagt Roth, "In letzter Minute kann sich viel ändern und das können wir nur erahnen. Auswirkungen wie die der Fernsehduelle oder des Irakkriegs können wir nicht erfassen."
Das Politikbarometer, so Roth, wurde entworfen, um "den Geburtsfehler des ZDF zu beheben" - allzu große Nähe zur CDU und damit fehlende Objektivität. Die fehle jedoch auch bei manchem Meinungsforschungsinstitut von heute. Was zum Beispiel in "Emnid" auf n-tv mitgeteilt wird, hält Roth mitunter für "unerträglich". Die Medien wiederum seien momentan geradezu verrückt nach statistischen Daten. "Regionalzeitungen versuchen damit ihr Geschäft zu beleben, veröffentlichen aber auch Informationen, die nicht dem von uns gewünschten Standard entsprechen", kritisiert Roth, "Wir haben eine große und wichtige Aufgabe: Komplexe Vorgänge erfassen und auf ihre Kernaussage zu reduzieren. Wir dürfen nichts vorspielen und keine Zusammenhänge herstellen, die es nicht gibt."
In Roths Beruf verschwimmen die Grenzen zwischen Wissenschaft und Journalismus. Ein Anspruch ist beidem gemein: Nachprüfbarkeit. "Sie werden von mir nur Sätze hören, die ich auch belegen kann", erklärt Roth, "Wenn das nicht geht, kennzeichne ich sie". Welche Rolle spielen seine eigenen politischen Vorlieben bei der Arbeit? "Natürlich habe auch ich politische Präferenzen", sagt Roth, "Aber wenn ich mich davon leiten ließe, wäre ich fehl am Platz und würde ganz schnell scheitern." Auch seine Mitarbeiter vergäßen für den Wahltag ihre persönliche Meinung. "Wir wollen nur richtig liegen mit unseren Aussagen, exakt sein", sagt Roth, "Das ist uns wichtig".
Eine Stunde bevor am Sonntag der Medienrummel beginnt, wird Roth einen ausgedehnten Spaziergang machen - er schöpft Konzentration für den Wahlabend. "Gegen 18 Uhr wird es schon etwas anspruchsvoll, sogar hektisch", lächelt Roth verschmitzt. Sein Lächeln lässt erahnen, dass es gerade der Medienrummel ist, der ihn an seinem Beruf fasziniert. Die Verbindung zwischen Wissenschaft und der knisternden Spannung im ZDF-Wahlstudio. Dafür kann man schon mal einen heiligen Tag opfern.
Info: Das gesamte Datenmaterial der Forschungsgruppe Wahlen geht an das Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung der Universität Köln und ist dort abrufbar - www.gesis.org/ZA.